Schweden ist gegen die Bandenkriminalität machtlos. Immer öfter trifft die Gewalt auch Unbeteiligte. Ministerpräsident Ulf Kristersson kündigt «nie da gewesene Massnahmen» an.
Es ist gegen 18 Uhr am Mittwochabend, als Mikael mit seinem Sohn durch eine Unterführung im Stockholmer Stadtteil Skärholmen radelt. Sie sind unterwegs zum nahe gelegenen Hallenbad. In der Unterführung treffen sie auf eine Gruppe Jugendlicher. Was genau geschieht, ist unklar, doch Mikael kehrt um und will die Jugendlichen zur Rede stellen. Wenig später ist er tot. Erschossen, hingerichtet, vor den Augen seines 12-jährigen Sohnes.
So schildert die Schwester des Opfers die Ereignisse später gegenüber dem Sender TV4. Mikaels Sohn wählt zuerst den Notruf, dann informiert er seine Grossmutter. Die Jugendlichen sind längst vom Tatort geflüchtet, als die Polizei eintrifft. Sie führt während der Nacht mehrere Personenkontrollen durch. Verhaftet wurde bis Freitagnachmittag niemand.
Die Bandenkriminalität in Schweden ist längst ausser Kontrolle geraten. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es im Land 56 Schiessereien. Acht Personen starben. In Skärholmen war es der dritte Schusswaffeneinsatz seit Anfang März. Mikael war nicht vorbestraft. Bis anhin ist nicht bekannt, dass er Verbindungen zu einer Gang gehabt hätte. Er war wohl ein Zufallsopfer. Sein Tod erschüttert Schweden auch deshalb, weil er zeigt: Es kann jeden treffen. Jederzeit.
Die Politik kündigt immer wieder neue Massnahmen gegen die wachsende Kriminalität an – doch geändert hat sich bisher wenig. Auch diesmal hat Ministerpräsident Ulf Kristersson versprochen, der Gewalt ein Ende zu setzen. «Ich habe beschlossen, dass wir die Kontrolle zurückgewinnen und Gesetze umsetzen werden, die wir in Schweden noch nie zuvor gesehen haben», sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur TT am Tatort.
Was will Schweden tun?
Schweden setzt auf strengere Gesetze
Stadtteile, in denen Ausländer unter sich bleiben. Jugendliche, die Gewalt, Drogen und die Mitgliedschaft in Gangs als Lifestyle zelebrieren. Berufskriminelle, die Kinder für ihre Zwecke missbrauchen. Und ein Rechtsstaat, der der organisierten Kriminalität gegenüber machtlos erscheint. Dafür, wie es in Schweden so weit kommen konnte, gibt es viele Gründe. Um das Problem zu lösen, setzt das Land gegenwärtig vor allem bei der Gesetzgebung an.
Im Januar wurden die Strafen für den unerlaubten Besitz von Waffen und Sprengsätzen verdoppelt. In besonders schweren Fällen droht eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren. Im Februar trat ein Gesetz in Kraft, das es der Polizei ermöglicht, Personen, die als gefährlich eingestuft werden, von gewissen Örtlichkeiten wegzuweisen. Solche Rayonverbote können auch präventiv eingesetzt werden – also auch dann, wenn eine Person noch nicht verurteilt wurde.
Am Mittwoch beschloss das Parlament zudem, sogenannte Sicherheitszonen einzuführen. Das Gesetz gibt der Polizei das Recht, in einem bestimmten Gebiet eine Sicherheitszone einzurichten, wenn die konkrete Gefahr von Schiessereien oder Explosionen besteht. Innerhalb dieser Zone darf die Polizei Leibesvisitationen durchführen und Fahrzeuge durchsuchen, ohne dass gegen eine Person ein konkreter Tatverdacht vorliegt. Dänemark kennt solche Zonen bereits. In Schweden tritt das Gesetz am 25. April in Kraft.
Welche weiteren Massnahmen Kristersson vorschweben, ist nicht bekannt. Nachdem im September bei Auseinandersetzungen verschiedener Gangs elf Personen erschossen worden waren, wollte er das Militär gegen die Banden einsetzen. Vorerst ist es bei Worten geblieben, wohl auch deshalb, weil unklar ist, wie eine Zusammenarbeit zwischen Militär und Polizei aussehen könnte. Laut geltendem Recht dürfen die Streitkräfte weder Gewalt noch Zwang gegen Einzelpersonen anwenden.
Regierung in der Kritik
Kristerssons Regierung wird immer lauter mit dem Vorwurf konfrontiert, sie tue zu wenig. Zu viele Versprechen, die Banden zu besiegen, sind unerfüllt geblieben. Im Jahresbericht der Stadt Stockholm heisst es, dass sich nur 54 Prozent der Anwohnerinnen und Anwohner von Skärholmen, wo Mikael erschossen wurde, sicher fühlen. Mütter und Väter berichten in den Medien davon, ihre Kinder nicht mehr zum Fussballtraining zu lassen. Eine Frau erzählt, wie sie sich abends draussen fürchtet. Und Skärholmen ist längst kein Einzelfall.
Als Ulf Kristersson gemeinsam mit Justizminister Gunnar Strömmer und Sozialministerin Camilla Waltersson Grönvall am Donnerstag den Tatort besuchte, sahen viele darin einen Affront. «Sie reden nur, aber nichts passiert. Es wird jeden Tag schlimmer», sagt Mikaels Schwager zur Tageszeitung «Dagens Nyheter». Auch Mikael soll sich vor seinem Tod im Quartier zunehmend unwohl gefühlt haben. Sorgen machte er sich vor allem um seinen Sohn.