Der Krieg in Gaza treibt die Eliten in Südostasien um. Sie haben Angst davor, dass sich Menschen aus der Region radikalisieren. Und sie überdenken ihre Haltung zur bisherigen Weltordnung, die von Amerika dominiert wird.
Der Deutschland-Besuch von Malaysias Regierungschef Anwar Ibrahim im März schlug in den sozialen Netzwerken hohe Wellen. Nachdem bei einer Medienkonferenz der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz noch das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont hatte, setzte Anwar zu einer leidenschaftlichen Replik an. Er kritisierte die «selektive» und «ambivalente» Haltung einiger westlicher Staaten zum Krieg in Gaza und warf ihnen vor, sie hätten seit «60 Jahren Greueltaten ignoriert». Malaysia ist in Südostasien der engste Verbündete der Hamas, die für Anwar keine Terrororganisation ist. Vielmehr bezeichnet er Israel als Besatzer, der Apartheid betreibe.
Vietnam sieht Parallelen zur eigenen Geschichte
Auch Brunei und Indonesien, die beiden anderen südostasiatischen Staaten, in denen Muslime die Mehrheit der Bevölkerung stellen, solidarisieren sich mit den Palästinensern. Allerdings agiert die indonesische Regierung zurückhaltender als Malaysia, weil sie als Stimme der muslimischen Welt wahrgenommen werden will. Prabowo Subianto, der im Oktober als neuer Präsident Indonesiens vereidigt wird, betonte am vergangenen Wochenende beim Shangri-La-Dialog in Singapur das Existenzrecht Israels und das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat.
Neben den muslimischen Ländern Indonesien, Malaysia und Brunei lassen sich zwei weitere Lager in Südostasien herausschälen. Das erste setzt sich aus Singapur, den Philippinen und Thailand zusammen: Singapur war als jahrzehntelanger Verbündeter Israels «zutiefst traurig über den tragischen Verlust so vieler Israeli». Die Regierungen in Bangkok und Manila gestanden Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu. Die Philippinen, die wie Thailand Palästina anerkennen, sind unter Präsident Ferdinand Marcos ein treuer Bündnispartner der Vereinigten Staaten.
Zudem arbeiteten am 7. Oktober bis zu 40 000 Filipinas und Filipinos, meist als Pflegekräfte, in Israel; drei wurden von der Hamas umgebracht. Besonders hart trafen die Attentate Thailand. Es kamen mindestens 41 Thailänder ums Leben, die in der Nähe zum Gazastreifen in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten; sechs hält die Hamas noch immer als Geiseln. Thailands Regierungschef Srettha Thavisin bezeichnete die Hamas zunächst als «unmenschlich», bevor er sich zurücknahm, um die Geiseln nicht in Gefahr zu bringen.
Ein weiteres Lager in Südostasien bilden jene Länder, die sich mit Stellungnahmen zurückhielten. Vietnam nimmt eine Sonderrolle ein. Wie China und Russland verurteilten die kommunistischen Machthaber die Hamas nicht, sondern forderten die Kriegsparteien zur Mässigung auf. Sie wollten damit weder Israel noch die Palästinenser vor den Kopf stossen, denn mit beiden unterhält Vietnam gute Beziehungen. So gingen zwischen 2015 und 2019 annähernd 9 Prozent der israelischen Waffenexporte nach Vietnam.
Historisch fühlt sich das kommunistische Regime auch den Palästinensern verbunden. Es sieht Parallelen zum eigenen Kampf um Vereinigung und Unabhängigkeit von fremden Mächten. Ältere Vietnamesen dürften sich beim Anblick der Zerstörungen in Gaza an ihre eigene Geschichte erinnern: Zwischen dem 18. und 30. Dezember 1972 warfen amerikanische Flugzeuge zwölf Tage lang ohne Pause 20 000 Tonnen Bomben auf Hanoi und die umliegende Region ab. Amerika wollte die kommunistischen Herrscher um Ho Chi Minh zurück in die Steinzeit bomben und scheiterte kläglich.
China gewinnt an Einfluss
Mit Fortdauer des Krieges in Gaza findet in den südostasiatischen Regierungen jedoch ein Umdenken statt. Singapurs Aussenminister Vivian Balakrishnan unterstützte bei der Uno-Generalversammlung vor einem Monat wie alle anderen südostasiatischen Länder eine Zweistaatenlösung sowie die Aufnahme Palästinas als Mitglied bei den Vereinten Nationen. Er betonte, extremistische Ansichten hätten auf beiden Seiten an Boden gewonnen, und er warf Israel vor, zu weit gegangen zu sein.
Der Krieg in Gaza treibt manche Regierungen in Südostasien stärker um als das Vorgehen Chinas im Südchinesischen Meer oder die Geschehnisse in der Ukraine. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen haben sie Angst davor, dass sich Menschen aus ihren Ländern durch die Bilder toter Kinder und zerstörter Gebäude in Gaza radikalisieren und in den Krieg ziehen. Bereits während der Hochphase des Islamischen Staats im Irak und in Syrien zwischen 2014 und 2017 waren Tausende Kämpfer in den Nahen Osten aufgebrochen.
Zum anderen schwächt die bedingungslose proisraelische Haltung Washingtons die Position der Vereinigten Staaten in Südostasien. Amerika verzögert oder blockiert Uno-Resolutionen, die sich mit dem Verhalten Israels befassen, mit einem Veto. Das Vertrauen in die von Washington propagierte regelbasierte Ordnung schwindet.
Dies schlägt sich in Umfragen nieder. Das Iseas – Yusof Ishak Institute in Singapur befragte im Januar und Februar dieses Jahres rund zweitausend Experten aus den Regierungen, Denkfabriken sowie Nichtregierungsorganisationen aller zehn Mitglieder des Verbands Südostasiatischer Nationen (Asean). 50,5 Prozent der Befragten gaben an, dass China im Vergleich mit den Vereinigten Staaten der bevorzugte Partner sei. Im Vorjahr hatten sich nur 38,9 Prozent für Peking ausgesprochen. Damit haben sich die Experten in Südostasien erstmals in der Befragung für China als bevorzugten Partner ausgesprochen.