Der Zürcher Eishockey-Profi Pius Suter war in der Schweiz Topskorer und Vorzeigefigur der ZSC Lions. Nun hat er sich in der besten Liga der Welt durchgesetzt. Weil sein Spiel mehrdimensional ist. Ins Training fährt er immer noch oft mit dem Velo.
Es gibt sehr gute Eishockeyspieler in der National League, Akteure von Weltformat und mit illustrer NHL-Vergangenheit. Bei manchen wundert man sich, weshalb sie in der Schweiz aktiv sind, anstatt sich in der Glitzerwelt der NHL zu bewegen, wo die Millionen sprudeln; etwa bei Dominik Kubalik, dem neuerlich für Ambri-Piotta stürmenden ehemaligen Liga-Topskorer, der auch in der NHL schon 30 Saisontore erzielt hat. Oder bei Denis Malgin, dem zurzeit angeschlagenen Nummer-1-Center der ZSC Lions.
Es gibt eine Vielzahl an Gründen dafür, ob man es schafft, zu den knapp 1100 Spielern zu gehören, die pro Saison in der NHL zum Einsatz kommen. Nicht zuletzt geht es um Fortune; auch darum, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Aber vor allem muss man eine Nische finden, einen Grund, weshalb der Trainer einen nicht aus der Aufstellung streichen kann.
«One Trick Pony» nennt man im nordamerikanischen Sprachgebrauch die Art von Spieler, die eine einzige Sache besonders gut können. Im Fall von Kubalik ist es: Die Produktivität in der Offensive. Aber in der letzten Saison hat er für Ottawa in 74 Spielen nur 15 Punkte produziert. Es war eine zu magere Ausbeute, um den Platz in der Liga bewahren zu können. Ein Skorer, der nicht skort? Weg damit! Der nächste talentierte und tendenziell kostengünstigere Glücksritter wartet schliesslich schon auf seine Chance.
Ein kluger Kopf mit der Gabe, sein Leistungsvolumen realistisch einschätzen zu können
Auch Pius Suter hat ein Profil, das von Qualitäten in der Offensive geprägt ist. In der pandemiebedingt abgebrochenen Saison 2019/20 wurde er Liga-Topskorer im ZSC, kein Schweizer in der National League spielte mehr Powerplay als er.
Nun ist er, 28-jährig, gerade in seine fünfte NHL-Saison gestiegen, als Spieler der Vancouver Canucks. Bisher hat er in einer der 82 Spiele umfassenden Qualifikationsphasen noch nie mehr als 15 Treffer erzielt. Es ist keine Marke, welche die General Manager bei ihm Schlange stehen lässt. Doch Suter ist ein kluger Kopf mit der Gabe, sein Leistungsvolumen realistisch einschätzen zu können – das ist im Profisport nicht Usus. Er weiss, dass er in der NHL offensiv nicht am ganz grossen Rad zu drehen vermag.
Und so muss Suter nicht um seine Zukunft bangen. Weil er eine Art Everybody’s Darling geworden ist, der allenthalben gerühmt wird. Von den Trainern, dem Management und den Nerds, die ihre Tage damit verbringen, dieses komplexe Spiel mit verwinkelten Algorithmen aufzuschlüsseln.
«Swiss Army Knife» nennen sie Suter bei seinem aktuellen Arbeitgeber in Vancouver. Es ist angesichts seiner Herkunft keine sonderlich einfallsreiche Bezeichnung, aber richtig ist sie schon. Ein Sackmesser kann viele Dinge: Schneiden, Korken ziehen, Dosen öffnen und als Schraubenzieher dienen. Suter hat eine ähnliche Polyvalenz; seit seinem Wechsel in die NHL im Herbst 2020 ist er ein Spieler geworden, der im Angriff eigentlich jede Rolle übernehmen kann. Wie ein Chamäleon, das sich seiner Umgebung perfekt anpasst.
Vor allem ist er zu einem der führenden Sachverständigen im Unterzahlspiel geworden. Im letzten Winter waren seine Boxplay-Statistiken so gut, dass manche Analysten fassungslos von einer Anomalie sprachen, als wären sie gerade Zeuge der ersten Sonnenfinsternis geworden. Rick Tocchet, der Cheftrainer der Canucks, lobt fleissig die Spielintelligenz seines Zöglings. Und setzt Suter in diesem Herbst bereits wieder mehr als drei Minuten pro Partie im Boxplay ein. Kein anderer Stürmer im Team erhält in dieser Hinsicht so viel Vertrauen.
«Wie im Film» sei es manchmal – Suter sieht neben den Arenen auch viel Armut
Wie schafft man die Metamorphose vom Sonnenkönig des ZSC-Powerplays zum Boxplay-Spezialisten? «Na ja», sagt Suter, er versuche halt, zu mehr Einsatzzeiten zu gelangen. Und da biete sich das Unterzahlspiel an. «Es ist eine Gelegenheit für mich, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und in spielentscheidenden Momenten auf dem Eis zu stehen», erklärt Suter via Telefon aus Chicago – die Canucks befinden sich gerade auf einem langen Road Trip.
Sein jüngerer Bruder Kaj gehörte in der zweitklassigen Swiss League ebenfalls zu den erlesensten Boxplay-Spielern, ehe dieser die Profikarriere im vergangenen Sommer mit 26 Jahren nach einer Reihe von Gehirnerschütterungen beendete und zu seinem im Amateursport tätigen Stammklub Wallisellen zurückkehrte.
Liegt die Vorliebe fürs Boxplay in der DNA der Suters? Oder ist es einfach kluger Opportunismus? Pius Suter sagt: «Wir nehmen einfach die Rolle an, die wir kriegen. Es ist doch überall auf der Welt so, dass man sich von hinten nach vorne arbeiten muss.»
Aus Suter spricht eine gewisse Nüchternheit, das ist seine Art. Er ist kein Blender und Selbstdarsteller. Wenn Wayne Gretzky als «The Great One» apostrophiert wird und José Mourinho «The Special One» heisst, dann ist Pius Suter «The Normal One». Seit etwas mehr als einem Jahr ist er verheiratet; neben dem Eis wirkt er mit seiner Brille und seinem unscheinbaren Auftreten wie ein Soziologiestudent. In Zürich fuhr er stets mit dem Velo ins Training, auch in Vancouver tut er das manchmal.
Vancouver ist nach Chicago und Detroit seine dritte NHL-Station, er hat in jeder dieser Metropolen die enorme Diskrepanz einer zusammenbrechenden Gesellschaft beobachtet. Hier die pompösen NHL-Arenen, in denen die besten Tickets schnell einmal 500 Dollar kosten. Wenige Meter entfernt der Zerfall, die Armut und das Elend der Zeltstädte jener Menschen, die ihr Obdach verloren haben. «Wie im Film» sei das manchmal, sagt Suter. Es mache einem die eigenen Privilegien immer wieder bewusst.
Bei den Canucks unterschrieb Suter im Sommer 2023 einen Zweijahresvertrag, der ihm 1,6 Millionen Dollar einbringt. Knapp die Hälfte davon geht für Steuern und Abgaben weg. Es war zu jenem Zeitpunkt eine empfindliche Lohneinbusse. Aber der Transfer hat sich gelohnt: Suter und Vancouver, das ist bisher eine innige Liaison, in welcher der Stürmer seinen Marktwert anzuheben vermochte.
Nach dem verlorenen Entscheidungsspiel im Play-off-Final von 2011 kam es zu Fan-Krawallen
Die Frage ist, wie es für ihn weitergeht. Die Canucks haben in der vergangenen Saison alle Erwartungen übertroffen und zum erst zweiten Mal in den letzten 13 Jahren eine Play-off-Serie gewonnen (gegen Nashville).
2011 hatte Vancouver gegen Boston nur ein Sieg zum ersten Stanley-Cup-Triumph gefehlt. Der General Manager hiess damals Mike Gillis, der später als der vermutlich teuerste «Berater» in der Geschichte des Schweizer Eishockeys in Genf auftauchte, als die Ära Hugh Quennec bei Servette kurz vor dem Ende stand. Nach dem verlorenen Entscheidungsspiel gegen Boston damals kam es in Vancouver zu Krawallen; die kanadischen NHL-Klubs warten unterdessen seit 31 Jahren auf einen Stanley-Cup-Sieger aus ihren Reihen.
Vom Status eines ernsthaften Titelanwärters scheinen die Canucks heute ein gutes Stück entfernt, trotz der formidablen Entwicklung der Talente Quinn Hughes und Elias Pettersson. Pius Suter aber sagt, er würde gerne in Vancouver bleiben, er habe die Stadt schätzen gelernt, sie biete gerade kulinarisch sehr viel. Noch gab es keine Vertragsgespräche. Es ist denkbar, dass bis Anfang März in dieser Hinsicht wenig geschieht.
Suter braucht das nicht zu beunruhigen. Das Chamäleon ist nicht nur anpassungsfähig, sondern auch wertvoll – und hat im NHL-Dschungel seinen Bestimmungsort gefunden.