Seit Jahren steigen in Polen die Löhne schneller als die Inflation. Viele Menschen können sich deshalb immer mehr leisten. Die Einkommensunterschiede sind je nach Gegend gross – aber inzwischen kleiner als in der Schweiz.
In der «Soho Factory», einer etwa 15 Jahre alten Siedlung im Osten von Warschau, kann man den Wandel der polnischen Gesellschaft erfassen. Seit 2010 sind dort auf einem ehemaligen Fabrikgelände 740 Wohnungen und 40 Geschäftslokale entstanden. Die alten Fertigungshallen wurden sorgsam renoviert und beherbergen heute Restaurants, Museen und Büros. Als Vorbild soll New York gedient haben.
In den neuesten Wohnblocks kostet der Quadratmeter rund 22 000 Zloty (etwa 5000 Franken). Das ist viel Geld in Polen. Doch die Wohnungen gingen weg «wie warme Brötchen», heisst es im Verkaufsbüro des Investors, der gerade ein neunstöckiges Wohnhaus zum Verkauf fertiggestellt hat. Die neuen Bewohner werden Sicht auf das Warschauer Wahrzeichen, den stalinistischen Kulturpalast, haben.
Unweit des Immobilienbüros steht die ehemalige Fertigungshalle der WFM-Motorradfabrik. Früher wurde hier die «Osa» (dt. Wespe), ein Vespa-ähnlicher Scooter, gebaut. Nun befindet sich hier eine Niederlassung des kalifornischen Veloherstellers «Specialized». In dem 150 Quadratmeter grossen Verkaufslokal gibt es Velos zwischen 750 und 15 000 Franken. «Immer mehr Warschauer verzichten aufs Auto und kaufen sich stattdessen ein Lastenvelo», sagt der Verkäufer, nachdem er die Vorzüge des schwarzen Gefährts mit Elektroantrieb erklärt hat. Es kostet fast halb so viel wie ein Dacia Sandero, eines der beliebtesten Autos in Polen. Laut dem Verkäufer investiert ein durchschnittlicher Kunde fast einen Warschauer Bruttomonatslohn in sein Velo. Das sind umgerechnet etwas mehr als 2000 Franken. Eine Zahlung in Raten ist möglich.
In Warschau beträgt der monatliche Durchschnittslohn 10 150 Zloty brutto, rund 2286 Franken. Nirgendwo im Land ist dieser höher. Im Landesdurchschnitt betrug der Referenzlohn im Oktober 2024 laut dem Statistikamt (GUS) immerhin 8300 Zloty (1869 Franken), das sind etwas mehr als 10 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Allerdings bezieht das GUS in seine Berechnungen nur Firmen mit zehn oder mehr Angestellten ein. Kleinere KMU fehlen also, und diese sind bekannt dafür, dass sie oft nur den Mindestlohn bezahlen.
In Westen klebt das Bild der Nachwendezeit
In der Tendenz aber steigen die Löhne in Polen seit Jahren mehr an, als die Inflation wegfrisst. Der Hauptgrund dafür ist ein seit Jahren solides Wirtschaftswachstum, das von den mit EU-Transfergeldern mitfinanzierten Investitionen befeuert wird. Gleichzeitig herrscht ein grosser Fachkräftemangel. Er ist eine Folge der hohen Abwanderung nach Grossbritannien, Skandinavien und Deutschland, die in den ersten zehn Jahren nach dem EU-Beitritt von 2004 besonders hoch war. Heute werden von dort zurückkehrende Fachkräfte oft sofort wieder ins Ausland abgeworben. Polnische Unternehmenschefs machen für die steigenden Löhne auch den rasant steigenden Mindestlohn verantwortlich. Dieser hat sich innerhalb von sechs Jahren auf 795 Franken netto verdoppelt.
Steigende Löhne haben den Lebensstandard von sehr vielen Polen und Polinnen verbessert. Das zeigt sich bei den Konsumgütern im Haushalt und insbesondere bei teureren Sportartikeln, besseren Kaffeemaschinen oder den Service-Angeboten, zum Beispiel den zahlreichen Schönheitssalons für Mensch und Tier.
Trotzdem ist das Bild Polens in Westeuropa noch immer geprägt von den Solidaritäts-Paketaktionen, die es nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 gab. Damals schickten Zehntausende Deutsche und Schweizer Lebensmittelpakete an polnische Familien. Bald folgten die gebrauchten Winterkleider. In der «Tagesschau» wurden oft polnische Metzgereien mit leeren Gestellen gezeigt, davor lange Menschenschlangen.
Noch im Wendejahr 1989 war selbst in der benachbarten Ukraine, damals noch ein Teil der Sowjetunion, die Versorgung mit Lebensmitteln besser als in Polen. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren, als der Mechanismus von Angebot und Nachfrage der freien Marktwirtschaft zu greifen begann. In der Folge entwickelte sich in Polen wie in allen postsozialistischen Transformationsländern zuerst eine grosse Einkommensschere. Heute indes ist der Wert des Gini-Indexes, der die Einkommensverteilung in einer Gesellschaft misst, in Polen kleiner als der EU-Durchschnittswert – und auch geringer als in der Schweiz. Seit 2007 geht die Schere zwischen den höchsten und den tiefsten Einkommen in Polen gar wieder zusammen.
Gute Strassen bis in die Provinz
Allerdings sind die Verdienstmöglichkeiten regional sehr unterschiedlich. So kann man entlang der ganzen sogenannten Ostwand, also in den Grenzregionen zur russischen Oblast Kaliningrad, zu Litauen, Weissrussland und der Ukraine, im Durchschnitt maximal 70 Prozent so viel verdienen wie in den gleichen Berufen und für die gleiche Arbeit in Zentral- und Westpolen. Die besten Gehälter, etwas mehr 10 000 Zloty (rund 2200 Franken), findet man seit ein paar Jahren in Krakau und Warschau, der historischen beziehungsweise der Neuzeit-Hauptstadt des Landes. In der ostpolnischen Stadt Bialystok hingegen liegt der Brutto-Durchschnittslohn noch bei 6900 Zloty (rund 1500 Franken). Allerdings ist das Leben in Bialystok billiger als in Warschau. Und auch dort mangelt es weder an Hundesalons zwischen den Wohnblocks noch an Mountainbikes in den Strassen.
Die ärmsten Gemeinden liegen in den ländlichen Gegenden, auch um Bialystok, in der Woiwodschaft Podlasien sowie im Karpatenvorland (Podkarpackie). Doch auch dort sind die Strassen in einem tadellosen Zustand. Die EU-Infrastrukturhilfegelder haben inzwischen selbst die abgelegensten Gegenden im Land erreicht.
Die EU-Gelder haben es der seit etwas mehr als einem Jahr regierenden Mitte-links-Koalition unter Donald Tusk auch erlaubt, eine nach der Pandemie beängstigend ansteigende Armutswelle aufzuhalten. Brüssel hatte als Reaktion auf Tusks Versprechen, die seit 2015 sukzessive abgebaute Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederherzustellen, die bis dahin blockierten Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds freigegeben.
Die EU-Finanzspritze kam wie gerufen. Denn im letzten Regierungsjahr der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) war die Armutsquote plötzlich von 4,6 auf 6,6 Prozent hochgeschnellt. Die PiS hatte zwar nach ihrem Wahlsieg von 2015 das beliebte Kindergeld 500+ von umgerechnet rund 125 Franken eingeführt und damit Hunderttausenden von minderbemittelten Polen auf die Beine geholfen.
Doch während die Inflation gegen Ende der PiS-Regierungszeit auf fast 20 Prozent anstieg, wurden Kindergeld wie auch Sozialhilfen kaum indexiert. Die Regierung Tusk holte dies 2024 nach: Sie hob das Kindergeld auf 800 Zloty (rund 180 Franken) und das Sozialhilfeminimum auf 1010 Zloty an. Wer heute als Erwachsener weniger als 1010 Zloty pro Monat zur Verfügung hat, ist sozialhilfeberechtigt. Damit gelang es ausgerechnet der von PiS-Kritikern gerne als unsozial und wirtschaftsliberal bezeichneten Mitte-links-Regierung, die Pauperisierung Polens aufzuhalten: Die Zahl der von Armut betroffenen Polen sank laut offiziellen Angaben in einem Jahr von 2,5 auf 1,5 Millionen. Auch die Arbeitslosenquote ging mit dem Regierungswechsel von 6 auf 5 Prozent zurück.
Dennoch gibt es auch im sich rasant modernisierenden Warschau nach wie vor arme Stadtbezirke, etwa auf beiden Seiten des Ostbahnhofs. In Praga Nord und Süd siedelte die sozialistische Staatsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg unzuverlässige Genossen, zur Sesshaftigkeit gezwungene Vertreter der Roma-Minderheit sowie Alkoholiker oder Kleinkriminelle an. Laut dem Index des Job-Portals «Jooble» liegt hier der Durchschnittsverdienst 20 bis 30 Prozent unter dem Landesdurchschnitt.
Die Strassen sind geprägt von heruntergekommenen Häusern, ärmlichen Secondhand-Läden und Schnellimbissen. In Stadtteilen wie diesen leben viele der 3,6 Millionen Polinnen und Polen, die mit dem Mindestlohn auskommen müssen. Wem es schlecht ergeht, der wird nur für ein Dreiviertelpensum angestellt – wobei erwartet wird, dass unentgeltlich mehr gearbeitet wird. So kompensieren vor allem kleine Firmen den in Polen seit Jahren ansteigenden Mindestlohn. Die Betroffenen müssen dies oft mit Zweitjobs am Wochenende kompensieren.
Die Bohème ist nicht weit
Die Minsker Strasse in Praga Süd führt direkt zu «Soho Factory». Auf die alten, unrenovierten Mietskasernen auf beiden Strassenseiten folgen plötzlich die hippen, postindustriellen Neuinvestitionen. Die Mischung aus Zerfall und Gentrifizierung bildet jenes Biotop, das junge Freischaffende aus der Welt von Social-Media-Marketing und Mode anzieht.
Auf diese Kundschaft setzt der neueröffnete Bio-Laden «Spoldzielnia Dobrze», ein Genossenschaftsbetrieb, der Neumitglieder sucht. Er bietet im Tausch gegen Anteilscheine und Mithilfe im Laden einen Rabatt auf Produkte an. Das Modell ist in Warschau neu. «Wir haben schon zwei Filialen in der Innenstadt, aber hier im ‹Soho› erwarten wir weit mehr finanzielles Potenzial», erklärt der modisch gekleidete Verkäufer. Denn hier ziehe hin, wer sich soziales und ökologisches Bewusstsein leisten könne.