Kaum jemand kennt das russisch-chinesische Verhältnis so gut wie Alexander Gabujew. Er erklärt, warum Russland und China näher rücken, obwohl sie sich nicht lieben.
Herr Gabujew, Xi Jinping und Wladimir Putin verkündeten vor zwei Jahren «grenzenlose Freundschaft». Wie steht es um diese Freundschaft?
Sie sollten solche Propaganda-Parolen nicht ernst nehmen. Vor dem Krieg diente diese dazu, dem Westen gegenüber Einheit zu signalisieren. Nun wird kaum mehr davon gesprochen, es stehen wieder stärker die materiellen Interessen im Mittelpunkt.
Die da wären?
China war schon immer ein wichtiger Markt für Russland. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist China noch viel wichtiger geworden. Heute ist China der Rettungsring der russischen Wirtschaft und liefert wichtige Technologien, die Russland braucht, um die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten.
Und wie sieht das aus chinesischer Sicht aus?
Für Peking ist von grösstem Interesse, dass Russland China wohlgesinnt bleibt, auch als Vetomacht im Uno-Sicherheitsrat. Russland liefert billige Rohstoffe, und was noch viel wichtiger ist: Militärtechnologie, die China nirgendwo sonst bekommt.
Worin ist Russland China militärisch voraus?
Bei Frühwarnsystemen, Satelliten zur militärischen Aufklärung, Triebwerken für Kampfjets, Technologie für Störsender. Russland hat leisere, nuklear betriebene U-Boote. China könnte all diese Dinge bekommen.
Glauben Sie, dass Russland diese Technologien teilen wird?
Wir wissen es nicht. China könnte Russland unter Druck setzen: «Wenn ihr diese oder jene Technologie nicht mit uns teilt, kaufen wir weniger Öl und Gas von euch.» Gleichzeitig sagt sich Russland möglicherweise: «Was schlecht für die USA ist, ist gut für uns.» Und ein militärisch starkes China ist natürlich schlecht für die USA.
Was verbindet die beiden Länder ausser ihrer gemeinsamen Abneigung gegen die USA?
Da besteht keine besondere Vorliebe füreinander. Es sind rein pragmatische, materielle Interessen, welche die beiden Länder zusammenbringen. Noch vor kurzem kannten sich Russen und Chinesen kaum. Das ändert sich nun schnell, da sie zusammenarbeiten müssen. Russen beginnen, Chinesisch zu lernen. Denn auf lange Sicht gibt es für Russland keinen Weg zurück zu einer Beziehung mit Europa, zumindest nicht unter der gegenwärtigen politischen Führung in Moskau. Dementsprechend ist China auf absehbare Zeit der wichtigste Absatzmarkt für russische Güter und die wichtigste Quelle für Technologie, Geld sowie Innovation. Für China ist Russland weniger wichtig als umgekehrt. Doch die Chinesen verstehen, dass sie mit den Russen gemeinsam die amerikanische Hegemonie bekämpfen.
Wie wichtig ist die persönliche Beziehung zwischen Putin und Xi? Haben sie Sympathien füreinander? Sind sie gar befreundet?
Schwer zu sagen. Aus der Körpersprache von Xi und Putin schliesse ich, dass Sympathien bestehen. Sie sind ein Zar und ein Kaiser – das funktioniert. Sie sind gleich alt und hatten beide eine schwierige Jugend. Beide erlebten den Kollaps der Sowjetunion, und für beide war es eine prägende Erfahrung. Beide möchten ihre Länder wieder zu vergangener Grösse führen. Beide sehen den Westen skeptisch. Das politische System in ihren Ländern drehte sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr um sie. Putin und Xi haben also viel gemeinsam.
Wie würde sich die Beziehung zwischen den beiden Ländern verändern, würde Xi oder Putin sterben?
Der Tod von einem der beiden könnte für die chinesisch-russischen Beziehungen fundamentale Folgen haben, weil die beiden in ihren Ländern so viel Macht haben und weitreichende Entscheide fällen. Viel hängt davon ab, wer Nachfolger wird. Je länger die gegenwärtigen Machtstrukturen bestehen, desto dauerhafter werden die chinesisch-russischen Beziehungen. In zehn Jahren wird Russland völlig losgelöst sein vom Westen in Bezug auf Wirtschaft, Finanzinfrastruktur, Technologie und Kontakte zwischen den Bürgern. China ist Russlands wirtschaftliches Rückgrat. Wenn es einmal einen neuen russischen Präsidenten gibt, wird es unmöglich sein, die Beziehung zum Westen ohne sehr schmerzhafte Zugeständnisse zu reparieren. Das ist die russische Wahrnehmung.
Und wie nehmen es die Russen auf, dass Russland offensichtlich der Juniorpartner Chinas ist?
Seit Kriegsausbruch ist die Diskussion darüber praktisch verstummt. Die Russen sind sich des Ungleichgewichts bewusst. Doch dieses gab es auch in der Beziehung zum Westen. Der Westen war stärker und Russland viel abhängiger. Russland ist sich also gewohnt, stärkere Partner zu haben. Die Beziehung mit China ist unabdingbar für Russland. Wenn es überleben und den Krieg in der Ukraine weiterführen will, muss es mit China eine engere Beziehung zu chinesischen Bedingungen eingehen. Gleichzeitig braucht China aber auch Russland. Es kann nicht einfach Russland seinen Willen aufzwingen.
Zu Sowjetzeiten war das noch anders, da war China der Juniorpartner. Lange schauten die Russen auf die Chinesen herab. Hat sich das geändert?
Dass ändert sich gerade. Die russische Elite hat realisiert, dass China eine Grossmacht ist. Begonnen hat das bereits mit der Weltwirtschaftskrise 2008, da schrumpfte die russische Wirtschaft um 10 Prozent, während jene Chinas um 10 Prozent wuchs. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich ebenfalls gewandelt. Die Russen sehen, dass sie vor allem chinesische Autos und Smartphones nutzen. Gleichzeitig mischt sich China nicht in Russlands innere Angelegenheiten ein, anders als Europa. Aus Sicht Putins wollen die Europäer die russische Seele verändern. Putin sagt sich: «Die Chinesen sind zwar nicht unsere Freunde, sie wollen unser Geld, aber immerhin greifen sie nicht unsere Seele an.»
Und wie hat sich die Sicht der Chinesen auf Russland verändert?
Aus persönlicher Erfahrung würde ich sagen, dass China in den 1990er Jahren begonnen hat, auf Russland herabzuschauen. Die junge Generation ist fasziniert von den USA, nicht von Russland. Die Chinesen sehen die miserable Performance der russischen Armee in der Ukraine und nehmen das als Beweis, dass es keine Grossmacht mehr ist. Sie sehen, dass Russland keine High-Tech-Nation ist. Aber sie sehen auch den Durchhaltewillen der Russen auf dem Schlachtfeld und in Bezug auf die Sanktionen und sagen sich: die Russen können einiges aushalten.
Genau das hat Xi in jüngster Vergangenheit immer wieder von seinem Volk verlangt.
Kommt dazu, dass die chinesische Propaganda vorgibt, dass Russland die gesamte Nato bekämpfe. Die Chinesen sehen den Ukraine-Krieg also durch ein Prisma der chinesisch-amerikanischen Beziehungen.
Viele Experten zweifelten bis zum letzten Moment daran, dass Russland wirklich angreifen würde. Inwiefern hat der 24. Februar 2022 Ihre Einschätzung verändert, wie sich China gegenüber Taiwan verhalten könnte?
Meine Einschätzung ist, dass China Taiwan nicht angreifen wird, sofern gewisse rote Linien nicht überschritten werden wie beispielsweise eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans. China rüstet seine Streitkräfte auf, damit es im Fall der Fälle vorbereitet ist. Es stellt quasi sicher, dass die eigene Waffe geladen ist und dass alle darüber Bescheid wissen. Eine Lektion aus dem Ukraine-Krieg lautet für die chinesische Führung: Wenn dir dein Militär sagt, dass es erfolgreich sein werde, wenn es diese oder jene Waffensysteme erhalte, dann solltest du überprüfen, ob das wirklich stimmt. Korruption kann dazu führen, dass die Streitkräfte miserabel performen. Die geladene Waffe muss im Notfall funktionieren.
Sie mussten Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen und müssen es nun von aussen analysieren. Hindert Sie das daran, Russland zu verstehen?
Die Umstände erschweren eindeutig unser Verständnis von dem, was vor Ort passiert. Deshalb ist «intellektuelle Ehrlichkeit» wichtig. Es ist eine Herausforderung, die einen zwingt, diszipliniert anhand von Quellen zu arbeiten. Immerhin gibt es heute viel mehr Quellen als noch zu Zeiten der Sowjetunion. Dank dem Internet gibt es viel mehr belastbare Daten. Russen können immer noch nach Europa oder Dubai reisen, wo man mit ihnen reden kann. Für Leute wie mich, die im Exil leben, ist es extrem wichtig, das Land nüchtern zu betrachten und nicht in Wunschdenken zu verfallen und beispielsweise den Tod Putins oder das Ende seines Regimes vorherzusagen.
Alles, was Sie jetzt gesagt haben, gilt auch für China. Welche Blackbox ist schwieriger zu analysieren? China oder Russland?
Mit Blick auf Entscheidungsträger ist es für mich China. Es gibt kaum noch Leute, die Auskunft geben, der Informationsfluss ist praktisch versiegt. In Russland ist die Situation noch etwas besser. Allerdings verschlechtert sich das seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine.