Die Hochschule will der Stadt Zürich mit dem Projekt E-Bike-City aufzeigen, wie richtige Verkehrspolitik geht.
Der Minotaurus würde im Zürcher Verkehrsnetz ein Schlemmerleben führen. Wer in dieses Labyrinth gerät, kommt nur mit viel Ortskenntnis und auch dann oft nur stockend wieder heraus. Die Innenstadt ist kaum befahrbar, Parkplätze gibt es immer weniger, Velowege hören irgendwo auf. Wenigstens der öV funktioniert hervorragend. Das sind die Resultate von drei Jahrzehnten rot-grüner Verkehrspolitik, stets vom Ziel getrieben, umweltfreundlicher zu werden. Wie glücklich die Zielgruppe mit den Entwicklungen ist, zeigt sich unter anderem an der Tatsache, dass sie in den warmen Monaten regelmässig aufs Fahrrad steigt und für mehr Rechte auf den Strassen demonstrieren geht.
Nun prescht die ETH vor und will der Politik zeigen, wie man es richtig macht. Mit dem Projekt E-Bike-City hat die Hochschule im Dezember eine Vision vorgestellt, die den Autos Platz wegnehmen und dafür den Langsamverkehr – Fussgänger und Velofahrer – fördern soll. Im Gegensatz zu heute sollen die Fahrspuren für Autos, für den öV, für Zweiräder sowie die Gehwege grundsätzlich voneinander getrennt sein.
Die Vision der ETH sieht vor, dass künftig nur noch 50 Prozent des Strassenraums für Autos und Parkplätze reserviert sind, bis anhin sind es laut den Wissenschaftern 88 Prozent. Für Autofahrer würden diese Anpassungen laut Berechnungen der Forscher eine im Schnitt um 25 Prozent längere Reisezeit bedeuten. Die ETH hofft, dass Autofahrer darauf keine Lust haben und nach und nach auf E-Bikes oder Velos wechseln. Parkplätze könnten in der Folge durch Bäume und Veloständer ersetzt werden und der Verkehr grüner und sicherer werden.
Netto null dank E-Bikes?
Manche nennen die Idee richtungsweisend, andere utopisch oder wahnsinnig. Klar ist, dass sie polarisiert. Kein Wunder, plant die Hochschule doch unter anderem, praktisch nur noch Einbahnstrassen für Autofahrer auf Stadtgebiet zuzulassen. Es ist ein Projekt, das weltweit einzigartig wäre und die ETH in der Konzeptphase bis 2025 1,7 Millionen Franken kosten wird.
Die Wissenschafter wollen unter anderem dazu beitragen, die ehrgeizigen Klimaziele, denen das Stadtzürcher Stimmvolk 2022 zugestimmt hat, zu erreichen. Bis ins Jahr 2040 sollen die in der Stadt verursachten direkten Treibhausgasemissionen auf netto null sinken. Ab dann sollen also nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausgestossen werden, als durch natürliche und technische Speicher aufgenommen werden können. Kanton und Bund geben sich dafür immerhin bis 2050 Zeit.
Die Stadt kann Hilfe brauchen. Ende 2022 lagen die Treibhausgasemissionen laut einem Bericht des Umwelt- und Gesundheitsdepartements pro Einwohner bei 2,4 Tonnen. Das sind zwar 35 Prozent weniger als im Jahr 2010, ist aber immer noch weit vom Ziel entfernt. 2022 stiessen motorisierte Fahrzeuge gesamthaft 330 000 Tonnen CO2-Äquivalente aus. Bis 2040 soll es noch ein Viertel davon sein.
Um das zu erreichen, wollen die Verantwortlichen einerseits die Wege auf Stadtgebiet durchschnittlich um 10 Prozent gegenüber 2022 verkürzen. Zudem soll der Anteil des motorisierten Individualverkehrs von heute 25 auf 15 Prozent sinken. Die verbleibenden Personenwagen sollen dann zu 81 Prozent elektrifiziert sein, heute sind es erst 2 Prozent.
Die Stadt begrüsse das Projekt, unterstütze es aber nicht finanziell, teilt das Tiefbauamt mit. Man möchte den Strassenraum zwar auch umverteilen, aber auch für weitere Nutzungen wie Aufenthalts- und Spielmöglichkeiten.
Ehrgeiziger als die Stadt
Für Kay Axhausen, Projektleiter von E-Bike-City, gehen die Ideen der Stadt nicht weit genug. Während zweier Jahrzehnte war er Lehrstuhlinhaber für Verkehrsplanung und Transportsysteme an der ETH Zürich. Er sagt in einem Interview mit der NZZ: «Selbst wenn alle Autos zu E-Autos geworden sind, werden damit die Umweltziele nicht ganz erreicht.» Zudem würden E-Autos das Autofahren billiger machen, was mehr Anreize zum Fahren schaffe.
Axhausens Ziel ist darum noch ehrgeiziger als das der Stadt: Er möchte den Autofahrern die Freude an ihrem Gefährt nehmen. Der Verkehrsforscher trat Ende Januar in den Ruhestand, E-Bike-City soll sein Vermächtnis werden. Um das zu erreichen, sei «Axhausen zum Abschied so nah an der Politik wie noch nie», heisst es auf der Projektwebsite. E-Bike-City stehe «für die Hinwendung zu Politik und Gesellschaft, bei der der Forscher neue Ideen für die politische Debatte entwickelt sowie Lösungsansätze und Handlungsoptionen aufzeigt».
Aber sollte die CO2-Reduktion wirklich das einzige Entscheidungskriterium für die Verkehrspolitik sein? Und soll ein Forscher, von Steuergeldern finanziert, gesellschaftliche Entwicklungen vorantreiben? Oder hat die Hochschule ihr Hoheitsgebiet mit dem ambitiösen Projekt verlassen?
Aus der Politik sind die erwartbaren Reaktionen zu hören. Bürgerliche Politiker lehnen das Projekt ab, linke sind dafür. Die GLP, einmal auf die eine, einmal auf die andere Seite schwingend, begrüsst das Forschungsprojekt. «Die Idee der ETH ist hochrelevant», sagt Carla Reinhard. Sie sitzt für die GLP im Gemeinderat und in der Sachkommission Sicherheitsdepartement/Verkehr. «Die Umverteilung des Strassenraums ist genau, was wir stets diskutieren, weil wir mehr Platz für Velomassnahmen, den öffentlichen Verkehr und Hitzeminderung brauchen.» Zudem habe die Hälfte der Zürcher ohnehin kein Auto mehr, das Projekt gehe darum in die richtige Richtung.
«Alle Anspruchsgruppen müssen berücksichtigt werden»
Allerdings dämpft Reinhard die Erwartung der Forscher, das Projekt könnte für die Erreichung der Klimaziele eine entscheidende Rolle spielen: «Heute dauert ein einfaches Strassenbauprojekt acht bis zehn Jahre. Ich wüsste darum nicht, wie man es schaffen sollte, die Vision der ETH im nächsten Vierteljahrhundert komplett umzusetzen.» Trotzdem sei die Initiative wichtig, weil eine Stadt Visionen brauche.
Stephan Iten, SVP-Gemeinderat und Verkehrspolitiker, hält das ETH-Projekt für «sehr einseitig» und «wenig zielführend». Regulierungen und den Menschen etwas wegnehmen, das kenne man ja bereits von Links-Grün und sei «nichts als reine Velopolitik». Diese Strategie werde aber nicht funktionieren, die Menschen würden einfach länger im Auto sitzen und die Umwege in Kauf nehmen, was auch die CO2-Ziele torpedieren würde. «Das ist wie bei den Parkplätzen, da hat die Stadt auch das Gefühl, wenn sie die wegnehme, gebe es weniger Autos. Stattdessen verursacht dies unnötigen Suchverkehr, und der Verkehr verlagert sich in die Quartiere», sagt Iten.
Zudem würde die Projektleitung nicht berücksichtigen, dass Zürich der grösste Wirtschaftsstandort sei, mit all den Autos und Lastwagen, die dazugehörten. Iten ist dafür, dass die Verkehrsinfrastruktur grundsätzlich infrage gestellt wird. «Allerdings müssen alle Anspruchsgruppen, Verkehrsteilnehmer und Fahrzeugkategorien gleich berücksichtigt werden. Ein friedliches Zusammenleben geht nur miteinander, nicht gegeneinander.»
Der Touringclub Schweiz (TCS) sieht es ähnlich. Zwar sei unbestritten, dass das Velo in den Städten für kurze und mittlere Distanzen zunehmend genutzt werden könne, sagt der Sprecher Jonas Montani. Doch «der ideologisch geprägte Ansatz dieser Studie mit der konsequenten Ausschliessung des motorisierten Verkehrs ist weder realistisch noch zielführend». Anstatt die Verkehrsmittel gegeneinander auszuspielen, solle man ihre Komplementarität und die Stärken der verschiedenen Verkehrsträger der jeweiligen Situation entsprechend nutzen.
Auch die ETH hat nachgefragt. Von rund 7000 Personen haben sich 44,3 Prozent für das Projekt ausgesprochen. 43,5 Prozent waren dagegen. Die Ergebnisse freuen die Forscher. Allerdings wurde dafür die ganze Schweiz befragt. Es ist anzunehmen, dass die Zürcher Landbevölkerung weniger positiv reagieren würde. Denn auch wenn es ein städtisches Projekt ist, dürften insbesondere die Einwohner im Kanton betroffen sein.
Kay Axhausen sagt, man wisse noch nicht, ob die E-Bike-City funktioniere. Bis 2025 soll ein konkreter Entwurf zur E-Bike-City vorliegen. Man forsche «ergebnisoffen».