Erst neun Mal wurde ein Inder ausgezeichnet. Nur einer von ihnen war ein Naturwissenschafter, der auch in Indien tätig war. Das sorgt im bevölkerungsreichsten Land für Kritik. Im Fokus: die Bildungspolitik.
Wieder ging Indien bei der Nobelpreisvergabe leer aus. Und wieder wird diskutiert, wieso das inzwischen bevölkerungsreichste Land der Welt nicht mehr brillante Köpfe hervorbringt. Schliesslich ist ein Studium in Naturwissenschaften unter indischen Studenten beliebt. Und das schon seit Generationen. Heute machen rund 35 Prozent der Studierenden in Indien einen Mint-Hochschulabschluss, studieren also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Ingenieurwissenschaften.
2020 haben die indischen Universitäten an rund 2,5 Millionen Absolventen von Mint-Fächern Diplome verliehen. Hunderttausende haben danach keine Arbeit auf ihrem Gebiet gefunden. Deshalb verlassen mitunter die Besten das Land. Unter ihnen waren im letzten Jahrhundert drei Naturwissenschafter, die als Forscher an amerikanischen Universitäten Bahnbrechendes leisteten. Dafür wurden sie mit dem Nobelpreis geehrt: 1968 Har Gobind Khorana (Medizin), 1983 Subrahmanyan Chandrasekhar (Physik) und 2009 Venkatraman Ramakrishnan (Chemie).
Erst ein Mal erhielt ein indischer Naturwissenschafter einen Nobelpreis, der tatsächlich auch auf dem Subkontinent lebte und forschte. Das war der Physiker C. V. Raman im Jahr 1930. Damals war Indien aber noch eine britische Kolonie. Insgesamt erhielten bisher neun Inder einen Nobelpreis, unter ihnen der renommierte Wirtschaftswissenschafter Amartya Sen und Mutter Teresa (Friedensnobelpreis), die keine gebürtige Inderin war, sondern auf dem Balkan auf die Welt kam.
Wahlversprechen, das nicht eingehalten wird
Die Zahl der Nobelpreise in Naturwissenschaften ist nur ein Indiz dafür, dass es mit dem indischen Hochschulwesen seit Jahrzehnten nicht zum Besten steht. Auch heute verlassen Inder, die in der Forschung weiterkommen wollen, das Land. Im Ranking der besten Institute für Physik zum Beispiel liegt die erste indische Hochschule, das Indian Institute of Science (IISc), weit hinten (Platz 200–250). Bei den Ingenieurwissenschaften schafft es das IISc immerhin unter die besten 150 weltweit.
Das schlechte Abschneiden ärgert die indische Wissenschaftsgemeinschaft, weil Premierminister Narendra Modi schon seit Jahren verspricht, aus Indien eine «Wissenschaftsmacht» zu machen, so auch im vergangenen Wahlkampf. Dazu wurde 2020 eine neue Strategie in der Bildungspolitik verabschiedet. Und Anfang 2024 wurde endlich auch die Anusandhan National Research Foundation (ANRF) operativ, um Forschung und Entwicklung im Land anzukurbeln.
Umgerechnet rund 20 Milliarden Franken sollten dieses Jahr und die kommenden vier Jahre in ein neues sogenanntes Hochschulökosystem fliessen: Industrie, Universitäten und staatliche Stellen wie zum Beispiel das Gesundheitsministerium sollen viel koordinierter zusammenarbeiten und damit Innovation und Exzellenz fördern. Ausgegeben wurde gemäss Medienberichten für 2024 erst die Hälfte des geplanten Betrags.
Professoren und Dozenten klagen, dass sie von der Bildungsoffensive bis jetzt nichts spürten. Eher das Gegenteil: Die Hochschulen sparten, indem der Unterricht vermehrt online stattfinde. Doch gerade in den Naturwissenschaften seien Investitionen in die Grundlagenforschung, in Labore und Praxisunterricht wichtig.
Online-Unterricht, kaum Labore
Binay Panda, ein international ausgebildeter und vernetzter Biotechnologie-Professor an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Delhi, beschreibt gegenüber chemistryworld.org, dass die Klassenzimmer und Laboreinrichtungen an seiner Hochschule in einem erbärmlichen Zustand seien. Dabei ist diese Hochschule mit rund 9000 Studierenden verhältnismässig klein und wurde 2012 als beste indische Universität ausgezeichnet. Auch die ANRF kritisiert Panda: Viel zu bürokratisch sei die neu geschaffene Förderstelle, Anträge für Projekte und Forschungsstipendien würden verschleppt. Zudem sei im Vorstand der ANRF kein einziger Vertreter einer Universität und niemand aus der indischen Industrie.
Dabei zielt die Bildungsoffensive im Hochschulbereich gerade darauf ab, dass Spitzenforschung vermehrt durch die Privatwirtschaft und Dritte mitfinanziert wird, wie das an den westlichen Spitzenuniversitäten der Fall ist. In Indien werden die Hochschulen zu zwei Dritteln vom Staat getragen. Und nur 0,65 Prozent des Bruttoinlandprodukts gehen an die Hochschulen. Das Ziel wäre, dass dieser Wert auf mindestens 1 Prozent anwächst. Doch wurde jüngst trotz anderslautenden Ankündigungen wieder gespart.