Indien tritt auf der globalen Bühne zunehmend selbstbewusst und fordernd auf. Doch was will Indien in der Welt erreichen, ausser mehr Macht?
Indien hat in den vergangenen Jahren keinen Zweifel daran gelassen, wo es seinen Platz in der Welt sieht: bei den Grossmächten. Unter der Führung von Narendra Modi fordert Indien selbstbewusst mehr Einfluss. Modi verweist darauf, dass Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde ist und schon bald die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt sein wird. Seine Botschaft ist klar und konsistent: Indien will seinen rechtmässigen Platz auf der globalen Bühne zurück und will in der Weltpolitik mitreden.
Weniger klar ist allerdings, was Indien genau zu sagen hat. Seine Position in zentralen Fragen der Weltpolitik bleibt vage. Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar spricht von einer «strategischen Autonomie» und rühmt sich damit, dass Indien eines der wenigen Länder sei, die mit verfeindeten Mächten wie Israel und Iran, der Ukraine und Russland gleichzeitig sprechen könnten. Doch oft hinterlässt diese Politik den Eindruck, dass es Indien vor allem darum geht, sich nicht festzulegen.
Jaishankar betont, Indien handele zu seinen eigenen Bedingungen, nicht gebunden von Allianzen. Seine Aussenpolitik sei durch Pragmatismus, nicht durch Ideologie bestimmt. Seine Partnerschaften seien auf Interessen gegründet, nicht historischer Verbundenheit. Jaishankar tritt mit einem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein auf. Er macht klar, dass Indien sich nichts mehr sagen lässt und Gehör verlangt. Doch was genau will Indien – ausser mehr Einfluss in der Welt?
Flexibilität und Pragmatismus bestimmen die Politik
«Indien versucht, eine Menge Dinge gleichzeitig zu tun. Daher ist eine gewisse Verwirrung verständlich», sagt der indische Politikexperte Harsh Pant von der Observer Research Foundation (ORF) in Delhi. Indien sei im Wandel, und auch das internationale System befinde sich im Umbruch. Als aufstrebende Macht wolle Indien die globale Ordnung mitgestalten. Es sei sich jedoch bewusst, dass es dabei pragmatisch agieren müsse. Bei aller Flexibilität und allem Pragmatismus liessen sich aber trotzdem einige allgemeine Prinzipien erkennen.
Die traditionelle Politik der Blockfreiheit (Non-Alignment) aus der Zeit des Kalten Krieges habe die Modi-Regierung durch eine Politik des Multi-Alignment ersetzt, sagt Pant. Früher habe Indien gefürchtet, dass es seine Autonomie verliere, wenn es sich zu fest an andere Staaten binde. Heute sei die Regierung dagegen überzeugt, dass sie ihren Handlungsspielraum erweitern könne, wenn sie enge Beziehungen mit einer Vielzahl von Partnern unterhalte.
Indien sei bereit, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen – etwa im Kampf gegen den Klimawandel. Auch habe es während der Covid-Pandemie als eines der wenigen Länder in der Welt frühzeitig Impfstoff für andere Staaten geliefert, sagt Pant. Indien habe in das Verhältnis zu Europa und der Golfregion investiert und die Beziehungen diversifiziert. Dabei sei es aber stets darauf bedacht, sein Verhältnis zu anderen Ländern nicht von Dritten bestimmen zu lassen.
Das ist es, was Indiens Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar mit strategischer Autonomie meint. Auch der frühere indische Diplomat Ajay Bisaria sieht darin ein zentrales Element der indischen Aussenpolitik.
Das Verhältnis zu den Nachbarn bleibt schwierig
Ein weiteres Element für Bisaria ist der Fokus auf die Nachbarschaft, der seit Modis Amtsantritt 2014 unter dem Schlagwort «Neighborhood First» propagiert wird. Der Premierminister sei sich bewusst, dass Indien Stabilität in seiner Nachbarschaft brauche, um seinen Wohlstand mehren zu können, sagt Bisaria, der vor seiner Pensionierung Indien als Botschafter in Kanada und Pakistan vertreten hat.
Die Modi-Regierung habe die Nachbarschaft um die Länder Zentralasiens und der Golfregion erweitert. Besonders die Beziehungen zu den arabischen Golfmonarchien hätten sich erfolgreich entwickelt, sagt der ehemalige Diplomat. Das Verhältnis zu den direkten Nachbarn Sri Lanka, Bangladesh, Nepal, Bhutan und Malediven ist dagegen von Höhen und Tiefen bestimmt. Immer wieder gibt es dabei Phasen der Spannungen wie derzeit mit Bangladesh.
Die Modi-Regierung hatte über Jahre enge Beziehungen zu der bangalischen Premierministerin Sheikh Hasina. Seitdem ihr autoritäres Regime im August 2024 von einem Volksaufstand gestürzt wurde, herrscht Eiszeit zwischen Delhi und Dhaka. Hasina ist nach ihrem Sturz nach Indien geflohen, und Delhi weigert sich, die Autokratin auszuliefern. Dafür sucht Bangladeshs Interimsregierungschef Muhammad Yunus nun die Nähe zu China.
China und Pakistan haben eine Sonderstellung für Indien
Indiens Nachbarn versuchen immer, die beiden Grossmächte Indien und China gegeneinander auszuspielen. Dies wird sich wohl auch in Zukunft nicht ändern. Für Indien bleiben die Beziehungen zu den Nachbarn eine Herausforderung, egal wer dort jeweils an der Macht sei. Aufgrund von Indiens Grösse ist es unvermeidlich, dass das Verhältnis unausgeglichen ist. Auch wenn sich Delhi grosszügig zeigt, gibt es rasch den Vorwurf, dass es sich in die internen Angelegenheiten einmische.
Eine Ausnahme unter den Nachbarn bilden Pakistan und China. Als systemische Rivalen haben sie eine Sonderrolle. Indien sehe sie als «abnormale Staaten», sagt Bisaria. China, weil es ein kommunistischer Staat sei. Pakistan, weil hinter der zivilen Fassade das Militär die Fäden ziehe und es gezielt Terrorismus gegen Indien einsetze. Solange sich an den internen Machtstrukturen nichts ändere, sehe Indien keinen Nutzen darin, den Dialog zu suchen, sagt der frühere Diplomat.
Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Modi die Initiative ergriffen, um das Verhältnis der verfeindeten Bruderstaaten zu verbessern, das seit der Unabhängigkeit 1948 belastet ist. So lud er 2014 den pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif zu seiner Vereidigung nach Delhi ein. Wenig später flog er zur Hochzeit von Sharifs Enkelin nach Pakistan. Ein Terrorangriff in Indien, für den Delhi den pakistanischen Geheimdienst verantwortlich machte, setzte der Annäherung jedoch ein Ende.
Indien will keine G-3-Ordnung in der Welt
Seither haben beide Seiten keine grossen Anstrengungen mehr unternommen, die Gespräche wiederaufzunehmen. Für Indien sei unklar, mit wem es in Pakistan überhaupt sprechen sollte, sagt Harsh Pant. Mit der zivilen Regierung oder den eigentlichen Machthabern im Militär? «Modi hat frühzeitig entschieden, dass sich der Einsatz nicht lohnt», sagt der Aussenpolitikexperte. Lieber habe er sich auf andere Länder konzentriert, bei denen er mehr habe erreichen können.
Die grösste Herausforderung für Indien ist heute China. Indien müsse das Militär stärken, um seine nördliche Grenze zu schützen, sagt der Ex-Botschafter Bisaria. Zusammen mit Verbündeten wie den USA, Japan und Südkorea müsse Delhi dafür sorgen, dass Chinas Einfluss im Indischen Ozean eingedämmt werde. Es sei für Indien wichtig, zu verhindern, dass die globale Wirtschaftsordnung bei Rohstoffen und Technologie einseitig zugunsten von China gestaltet werde.
Aus Indiens Sicht war die Ordnung des 20. Jahrhunderts nicht perfekt. Indiens Aussenminister Jaishankar beklagte kürzlich, die regelbasierte Ordnung, der der Westen heute nachtrauere, sei für nichtwestliche Länder weit weniger vorteilhaft gewesen. Allerdings besteht die Sorge, dass die künftige Weltordnung noch nachteiliger für Indien sein wird. «Indien will keine G-3-Ordnung sehen, in der die USA, Russland und China die Welt in Einflusssphären aufteilen», sagt Bisaria.
Für Indien ist heute die oberste Priorität, das Wachstum der Wirtschaft zu sichern. Denn dies ist die Voraussetzung, weiter an Gewicht in der Welt zu gewinnen. Trumps Importzölle sind da ein Problem. Auch Kriege wie in der Ukraine wirken sich negativ auf den Welthandel aus und treiben die Rohstoffpreise hoch.
Premierminister Modi hat sich daher als Vermittler in dem Krieg angeboten. Dies hindert ihn allerdings nicht daran, zugleich weiterhin von Moskau verbilligtes Erdöl einzukaufen. Denn wie Aussenminister Jaishankar es sagt: Indien kennt keine festen Allianzen, sondern nur Interessen. Indiens eigene.