Der Kontinent braucht Wirtschaftsreformen. Der Markt scheint sie bereits kommen zu sehen: Auffällig viele Industrie-, aber auch Rüstungswerte tummeln sich an den Tabellenspitzen des Momentum Screen von The Market. Auf diese starken Titel zu setzen, kann sich besonders lohnen.
An den europäischen Aktienmärkten zeichnet sich derzeit eine Renaissance der Industriewerte ab. Denn die Voraussetzungen erscheinen attraktiv.
- Drohende Zölle führen zu Vorzieheffekten.
- Die Verhandlungen über ein Ende des Ukrainekriegs wirken ebenfalls positiv auf viele Investoren.
- Die Mehrheit der angelsächsischen Analysten geht bereits von einer Reform der Schuldenbremse in Deutschland aus.
- Die Güter der europäischen Rüstungskonzerne dürften auch nach einem Waffenstillstand gefragt sein, weil Europa Nachholbedarf hat angesichts der unsicherer gewordenen Unterstützung durch die USA.
Trotz des jüngsten Kursanstiegs hat Europa – und hier im Speziellen Deutschland und Frankreich – aber noch Potenzial, ist sich Frank Engels sicher, Chief Investment Officer der Fondsgesellschaft Union Investment. «Die ersten Handelswochen 2025 mit einer starken Wertentwicklung europäischer Wertpapiere zeigen, was möglich ist», sagt Engels. Er setzt auf positive Überraschungen für europäische Aktien und hat die vermeintlichen Gewinnerbranchen übergewichtet. Zu ihnen zählt er neben Verteidigungsunternehmen und Industriewerten auch Banken.
Mit seiner positiven Einstellung zu europäischen Aktien ist Engels nicht allein. Andere Fondsmanager haben den alten Kontinent ebenfalls wiederentdeckt, wie die neueste Umfrage der Bank of America verrät.
Auf solche Aufwärtstrends zielt der Momentum Screen ab, denn sie setzen sich häufig fort. The Market identifiziert damit Aktien mit Kursmomentum, die gleichzeitig nach fundamentalen Kriterien attraktiv bewertet sind. Parallel spielt die gesamte Marktlage eine wichtige Rolle, weshalb der erste Blick immer auf die Aktienindizes fallen sollte. Dabei ist die neue Stärke der Hongkonger Börse augenfällig. Der Hang Seng Index (HSI), der die fünfzig grössten Unternehmen dort repräsentiert (Schwergewichte: Alibaba, HSBC, Tencent), führt die Tabelle der vierzig von The Market beobachteten Indizes vor dem deutschen Leitindex Dax an. Die Titel aus Hongkong sind sehr günstig bewertet, wie eine Analyse von The Market zeigt. Der Dax hat am vergangenen Dienstag wiederum mit 22ʼ845 Punkten ein Allzeithoch erreicht. Für Trendfolger gilt es jetzt, die Gewinne laufen zu lassen, solange die Party steigt.
Besonders ausgeprägte Partystimmung unter den Anlegern herrscht derzeit bei Rüstungsaktien. Wobei es der Differenzierung zwischen europäischen und US-Valoren bedarf. Denn US-Titel wie zum Beispiel Lockheed Martin haben zuletzt verloren, während die europäischen Aktien reüssieren. Neben Saab (Schweden), Leonardo (Italien) und Thales (Frankreich) ist da vor allem Rheinmetall aus dem Dax zu nennen. Die Titel des Düsseldorfer Rüstungskonzerns führen die Tabelle des deutschen Leitindex mit grossem Abstand an.
Nach der Münchner Sicherheitskonferenz schnellten die Aktien von Rheinmetall auf mehr als 930 €. Sieben der bei Bloomberg erfassten Analysten haben ihr Kursziel für die nächsten zwölf Monate mittlerweile auf 1000 € und mehr erhöht (Mittelwert aller Analysten: 945.44 €). So mancher Marktteilnehmer hält einen Aktiensplit für immer wahrscheinlicher. Den letzten gab es bei Rheinmetall im Verhältnis von eins zu zehn im Jahr 1997.
Nach der Konferenz setzte sich am Markt die Meinung durch, dass Europa eine eigene und unabhängige Sicherheitsarchitektur errichten muss. Sie dürfte deutlich mehr Verteidigungsausgaben als 2% des Bruttoinlandprodukts (BIP) erfordern. Die Analysten der DZ Bank machen dazu folgende Rechnung allein für Deutschland und Rheinmetall auf. Eine zeitnahe Anhebung der Verteidigungsausgaben auf 3% des BIP, also ein Anstieg um einen Prozentpunkt, entspricht rund 40 Mrd. € an Mehrausgaben pro Jahr. Nachdem Rheinmetall beim Sondervermögen von 100 Mrd. € rund 40% als Aufträge verbuchen konnte, rechnen die DZ-Bank-Analysten nun in einer Ersteinschätzung mit einer Quote von rund 20%. Oder mit anderen Worten: mit zusätzlichen 8 Mrd. € für den Dax-Konzern durch die Bundeswehr.
Rheinmetall ist an der Börse so etwas wie die deutsche Nvidia. Grund des rasanten Kursanstiegs: Der Rüstungskonzern ist unangefochtener Marktführer bei der Ausrüstung und der Munition für Bodentruppen und wegen der Zeitenwende eine Art Wachstumswert. Derzeit plant er, seinen Umsatz bis 2030 zu verdreifachen. Das könnte eine konservative Schätzung sein angesichts der voraussichtlich weiter stark steigenden Nachfrage. Sie ist auch der Grund, warum die Titel gemessen am dynamischen Kurs-Gewinn-Verhältnis (auch PEG) mit 0,5 nach wie vor unterbewertet erscheinen: Es bezieht das Gewinnwachstum mit ein.
The Market empfahl die Rheinmetall-Aktien erstmalig Mitte April vergangenen Jahres.
Es ist kein Zufall, dass im MDax vor allem ThyssenKrupp und Hensoldt sowie im SDax Renk in den Tabellen des Momentum Screen einen grossen Satz nach vorne gemacht haben. Auch das Trio zählt derzeit zum engeren Kreis der begehrten Rüstungsaktien.
Beim Getriebehersteller Renk ist The Market allerdings skeptisch, da der Konkurrenzkampf in der Nische grösser wird. Bei neu konstruierten Kampfpanzern ist die Pole Position von Renk keine Selbstverständlichkeit mehr. Dazu ist bei der Gesellschaft aus Augsburg die Unternehmensspitze umbesetzt worden. Solche Rochaden sollten Anleger immer kritisch hinterfragen.
Während Renk schon vorläufige Jahreszahlen gemeldet hat, will Hensoldt am 27. Februar nachlegen. Das Unternehmen mit Sitz in Taufkirchen (Landkreis München) geht für 2024 von einem Umsatz von rund 2,3 Mrd. € aus und strebt ein mittelfristiges Wachstum von durchschnittlich 10% pro Jahr an. Fürs vergangene Jahr visiert man den Faktor 1,2 beim Verhältnis zwischen Auftragseingang und Umsatz (Book to Bill Ratio) an, hiess es auf dem Kapitalmarkttag in London Mitte Dezember. Mittelfristig sollen die Aufträge deutlich schneller wachsen als der Umsatz. Als Ebitda-Marge prognostiziert Hensoldt für 2024 zwischen 18 und 19%, mittelfristig rund 20%. Analysten trauen dem Unternehmen allerdings eine Marge von im Schnitt nur 16,8% zu. Das KGV auf Basis des für 2025 geschätzten Gewinns liegt bei 24. The Market sah Mitte August vergangenen Jahres nach einem Kursrücksetzer eine gute Kaufgelegenheit.
ThyssenKrupp weckt derzeit gleich mehrfach Interesse. Von einem möglichen Kriegsende, sinkenden Energiepreisen und einer verbesserten Wirtschaftslage würde der energieintensive und konjunkturabhängige Industriekonzern besonders stark profitieren. Er wird ausserdem zum Teil als Rüstungstitel wahrgenommen. Und die geplante Abspaltung der Stahl- und der Marinesparte treibt den Kurs. Wenngleich die beiden Sparten nur einen kleinen Teil zum Gesamtumsatz beitragen: Im abgelaufenen Geschäftsjahr waren es für Steel Europe 10,6% des Umsatzes und für Marine Systems 5,8%.
Ein Liebling der Massen sind die Aktien dennoch nicht. Kein Wunder: ThyssenKrupp erwartet nun Schrumpfung statt Wachstum. Das schwierige Marktumfeld hat sie dazu veranlasst, die Umsatzprognose für das laufende Geschäftsjahr (per Ende September) auf die Spanne von 0 bis –3% zu reduzieren (zuvor: 0 bis +3%). Immerhin der Gewinn (Stufe Ebit) soll weiter zwischen 600 Mio. und 1 Mrd. € betragen. Das spiegelt gewisse Verbesserungen bei Effizienz und Kosten.
Auf den ersten Blick erscheinen die Aktien mit einem KGV von 7 für 2025 günstig. Peers wie etwa ArcelorMittal sind allerdings ähnlich bewertet. Historisch betrachtet liegt die Bewertung der ThyssenKrupp-Titel ebenfalls auf dem Niveau ihres langjährigen Durchschnitts – und keineswegs darunter.
Bei der Jahrespressekonferenz sagte CEO Bettina Orlopp, sie habe Commerzbank-Aktien für ihr privates Depot gekauft. Das Signal, das sie damit aussenden wollte, war klar: Sie hält die Papiere der Commerzbank für attraktiv bewertet. Orlopp kaufte Aktien für mehr als eine Viertelmillion Euro zu Kursen zwischen 19.09 und 19.68 €. Andere Vorstandsmitglieder folgten ihrem Beispiel. Nennenswert Geld investierten allerdings nur drei weitere der sechs Kollegen von Orlopp, der designierte Finanzchef Carsten Schmitt, Orlopps Stellvertreter Michael Kotzbauer und Thomas Schaufler, der fürs Segment Privat- und Unternehmerkunden verantwortlich zeichnet. Ob das Motiv wahre Überzeugung vom inneren Wert der Commerzbank ist oder eher das Wissen um die Symbolwirkung, bleibt ihr Geheimnis.
Das von der italienischen Grossbank UniCredit umworbene Kreditinstitut hat nur eine Chance, seine Eigenständigkeit zu wahren: Der Aktienkurs muss steigen. Dafür sollen nun unter anderem 3900 Stellen wegfallen. Für Ausschüttungen geht die Bank sogar an die Substanz. Das neue Strategieupdate sieht im Jahr 2028 eine Eigenkapitalrendite von 15% (2024: 9,2%), ein Nettoergebnis von 4,2 Mrd. € (2024: 2,7 Mrd. €) und eine Cost-Income Ratio (CIR) von 50% (2024: 59%) vor. Das klingt ambitioniert. Analysten halten für 2028 ein Nettoergebnis von 3,8 Mrd. € für realistisch. Sie rechnen zudem im Mittel mit einer Rendite von 11%, während die Konsensschätzung für die CIR 52% beträgt.
Das KGV für 2025 liegt bei 9. Die Aktien bleiben am Ende eine Wette auf die Übernahme durch UniCredit.
Grundsätzlich sind die Aussichten für europäische Banken sehr gut, wie The Market bereits im Januar geschrieben hat. Ihre Kursentwicklung konnte in den vergangenen Jahren sogar mit den Magnificent 7 mithalten, was Trendfolger nicht abschrecken, sondern zum Kauf ermuntern sollte.
Praktisch ein wenig in Sippenhaft genommen wurden Aktien wie Kion und Jungheinrich, aber auch Infrastrukturtitel wie Bilfinger oder Chemiewerte wie Lanxess. Sie alle würden von einer Belebung der Konjunktur profitieren, die sich derzeit zumindest in den Köpfen der Börsianer anbahnt. Dementsprechend konnten die Kurse kräftig zulegen. Die Intralogistiker Kion und Jungheinrich gelten als Frühzykliker. Kion hat sich jüngst nicht ohne Grund ein Sparprogramm auferlegt, wird aber auch unter Buchwert gehandelt. Aus Sicht von The Market haben die Aktien von Kion gegenüber Jungheinrich das grössere Kurspotenzial – und sie besitzen mehr Kursmomentum.
Im Swiss Leader Indx (SLI) können vor allem der Luxuskonzern Richemont und der Computerzubehörspezialist Logitech einen ausgeprägten Aufwärtstrend vorweisen.
Unter den mittelgrossen Valoren stechen AMS Osram und Galderma besonders hervor. Beide sind in den Augen von The Market aus unterschiedlichen Gründen allerdings mit Vorsicht zu geniessen.
Beim Dermatologiespezialisten Galderma wächst das Risiko für Enttäuschungen, so gut sind die Titel des Börsenneulings vom April 2024 zuletzt gelaufen. So muss etwa die Markteinführung von Nemluvio zur Behandlung von atopischen Ekzemen und der Hautkrankheit Prurigo nodularis in den USA ein grosser Erfolg werden, damit der Aktienkurs gerechtfertigt ist. Das KGV für 2025 beträgt 46.
The Market macht die Euphorie misstrauisch. Übermässiger Optimismus, der unter den Analysten herrscht, ist oft auch ein Zeichen dafür, dass die Aktien bereits in (zu) vielen Depots liegen. Der Aufwärtstrend ist allerdings weiter intakt.
Beim Licht- und Sensorspezialisten AMS Osram drückt die hohe Verschuldung auf die Stimmung. Der Bau einer Fabrik in Malaysia zur Produktion von MicroLED kostete 800 Mio. € – einer Fabrik, die mittlerweile wegen stornierter Aufträge gar nicht mehr benötigt wird und bis heute noch keinen Käufer gefunden hat. Die Nettoschulden liegen bei 1,9 Mrd. € oder dem 3,2-Fachen des bereinigten Ebitda. Zwar ist dem Unternehmen und den Aktien grundsätzlich viel Erholungspotenzial zu bescheinigen, doch das finanzielle Risiko bleibt hoch.
Da ist das jüngste Kursmomentum nur ein kleiner Trost. Es dürfte in den Zahlen zum vierten Quartal begründet liegen. Darin hat die Schwäche der Autobranche sich nicht so deutlich bemerkbar gemacht wie am Markt befürchtet. Auch der freie Cashflow ist wieder positiv. Für das laufende Quartal rechnet AMS Osram erneut mit einer gedämpften Nachfrage nach ihren Halbleiterprodukten für Autos und auch mit einer durchwachsenen Nachfrage aus dem Industrie- und dem Medizinmarkt. Die zweite Jahreshälfte soll allerdings stärker werden.
Das 25er KGV der Aktien liegt bei 18. Sie haben auf Sicht der vergangenen drei Monate deutlich gewonnen, weshalb sie im Momentum Screen auch weit oben zu finden sind. Zum 52-Wochen-Hoch (23.07 Fr.) fehlt ihnen aber noch einiges. Sie notieren derzeit knapp über dem 200-Tage-Durchschnitt von 9.78 Fr. Das ist allerdings schon einmal ein Anfang.
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Der Autor hält Aktien von Rheinmetall und Commerzbank.