Der FC Internazionale ist erfolgreich mit Fussballern, die anderswo nicht immer glänzten. Weil der Coach Simone Inzaghi sie zu einer robusten Einheit geformt hat. Im Champions-League-Viertelfinal gegen den FC Bayern ist Inter nun sogar der Favorit.
«Jeder kann einmal ein Tor schiessen. Aber viele Tore in ein, zwei oder drei Saisons nacheinander zu machen, ist aussergewöhnlich. Die härteste Herausforderung ist es, viele Tore über einen längeren Zeitraum zu erzielen», stellte Marcus Thuram kürzlich fest.
Der Stürmer von Inter Mailand ist nicht nur ein glänzender Analytiker. Er wächst mehr und mehr auch in die Rolle eines Stürmers hinein, der dauerhaft trifft. Bei 14 Toren in 30 Partien steht er in dieser Saison. Das ist Thurams persönlicher Bestwert – der Franzose weist nun schon die dritte Spielzeit nacheinander eine zweistellige Torquote auf. Das macht zwar noch keinen Weltstar aus dem ältesten Sohn des aus Guadeloupe stammenden Welt- und Europameisters Lilian Thuram. Aber er ist mittlerweile zu einem Erfolgsgaranten bei Inter geworden.
Karriere-Bestwerte als Schlüssel zum Teamerfolg
Thuram ist nur einer von vielen, die im schwarz-blauen Dress der Mailänder neue Karriere-Bestwerte erreichen. Lautaro Martínez etwa kam vor sechs Jahren als Rohdiamant zu Inter. Anfangs lag die Betonung auf «roh». Martínez zeichnete sich dadurch aus, den Ball auf möglichst spektakuläre Art im Tor unterzubringen. Das gelang zuweilen, aber keinesfalls regelmässig.
Der Trainer Simone Inzaghi, früher selbst Stürmer, integrierte den körperlich starken Argentinier stärker ins Teamgefüge und übertrug ihm zusätzliche Verantwortung als Captain. Seither spielt Martínez mannschaftsdienlicher und erzielt auch weniger spektakuläre Tore. Seine Mentalität als Kämpfer, der die Rivalen mit brachialer Kraft niederringt, hat Martínez beibehalten. Seine Ziele aber sind Teamziele geworden. «Ich möchte als Captain die Champions League gewinnen», sagte er.
Inter ist weiter gewachsen, seit das Team vor zwei Jahren den Champions-League-Final in Istanbul gegen Manchester City 0:1 verloren hat. «Die Mailänder haben seit zwei, drei Jahren eine eingespielte Einheit und haben mit dem 3-5-2 ein für sie perfektes Spielsystem gefunden», sagte Ciriaco Sforza. Der Schweizer, der drei Saisons in München und eine Spielzeit in Mailand absolviert hat, sieht Inter sogar als Favoriten im Viertelfinal-Duell gegen den FC Bayern (ab 21 Uhr).
Eine Schlüsselrolle im Ensemble spielt der frühere Schweizer Nationaltorhüter Yann Sommer. Auch er kennt den FC Bayern aus seiner Zeit in München zwischen Januar und August 2023. Bei Inter aber ist er zur besten Version seiner selbst gereift: In der laufenden Champions-League-Saison hat er bisher nur zwei Tore zugelassen. Und in der Serie A ist er bereits zwölf Mal ohne Gegentor geblieben. Verantwortlich macht er dafür vor allem die gute Zusammenarbeit mit den Vorderleuten: «Wir haben ein exzellentes Gleichgewicht, attackieren gut und verteidigen auch gut gemeinsam. Das ist der Schlüssel für den Erfolg.»
Sommer selbst verwandelte sich jüngst vom zuverlässigen, aber auch glatt wirkenden Profi in einen echten Typen: Nach einem Daumenbruch und der anschliessenden Operation liess er sich einen Spezialhandschuh mit Schiene fertigen und kehrte viel früher als erwartet zwischen die Pfosten zurück. Für die Tifosi, die gern Schweissflecken auf den Trikots ihrer Idole sehen wollen, ist Sommer nun endgültig ein Held.
Calhanoglu: der Fussballprofessor und Motivator
Überhaupt zeichnet die gesamte Equipe in dieser Saison eine besondere Widerstandskraft und Charakterstärke aus. Der Mittelfeldregisseur Hakan Calhanoglu brauchte nach seiner Verletzungspause zwar einige Partien, um wieder auf sein gewohntes Niveau zu kommen. Mittlerweile feiert ihn die «Gazzetta dello Sport» aber als «ans Pult zurückgekehrten Fussballprofessor», der offensiv den Rhythmus variiere und defensiv energisch die Lücken schliesse.
Manchmal reisst der Captain der türkischen Nationalmannschaft mit seinen blitzsauberen Weitschusstoren sogar die ganze Equipe mit. Bei der 3:2-Aufholjagd gegen Monza war er gemeinsam mit Marko Arnautovic der Matchwinner. Die beiden machten sich nach ihren Toren gegenseitig Komplimente. «In meinen zwanzig Jahren, die ich Fussball spiele, habe ich niemals einen so guten Freund wie Calha im Sport gefunden. Er ist fundamental für das Team. Denn wenn er gut in Form ist, spielt die ganze Equipe gut», sagte Arnautovic. Und Calhanoglu erwiderte: «Wenn es schwierige Situationen gibt, ist Marko einer, der das Wort ergreift und alle anderen aufrichtet.»
Arnautovic scheint in der Spätphase der Karriere endlich seine Rolle gefunden zu haben: Als Joker ist er voll konzentriert, als Stimmungsmacher unersetzbar.
Nun hat Inter die Rekordsaison von 2010 im Visier
In dieser Saison kann das einstige Enfant terrible sogar einen Kreis schliessen. Beim Triple 2010 gehörte er bereits zum Inter-Ensemble. «Damals war ich aber eher ein Fan, ähnlich denen, die in der Curva Nord stehen. Ich habe zwei, drei Spiele gemacht, mehr nicht», sagte er rückblickend und betrachtete das damalige Team mit dem exzentrischen Coach José Mourinho auch nicht als seines. Mourinho sagte damals über Arnautovic, er sei ein «phantastischer Typ mit der Einstellung eines Kindes». Mittlerweile ist aus dem einstigen Kind ein Mann mit Verantwortungsbewusstsein geworden. Sowohl Arnautovic als auch Calhanoglu halten ein neues Triple für machbar.
Simone Inzaghi formulierte mit Blick auf die Klub-WM sogar den Anspruch auf ein Quadrupel. Seine Haltung ist Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Der Trainer präsentierte sich lange Zeit als guter Dienstleister für Fussballunternehmen. «Dort, wo ich arbeite, steigen die Einnahmen, und es verringern sich die Verluste», pflegte er zu sagen.
Nun richtet Inzaghi den Blick über die wirtschaftlichen Bilanzen hinaus auf die Erfolge, er will Titel gewinnen. Nach einem Quadrupel-Jahr könnte der Weg in die Premier League für ihn frei sein. Anfragen von der Insel habe er bereits erhalten, sagte Inzaghi. Ebenfalls nach England wechseln könnte der frühere Aussenstürmer Thuram, den das Magazin «GQ» im Winter zu einem der bestangezogenen Sportler der Welt kürte. Scouts aus London und Manchester sind bereits in den italienischen Stadien gesichtet worden. Sie beobachten den von Inzaghi zum zentralen Angreifer umfunktionierten Typen dabei, wie er regelmässig seine Tore schiesst.