Die Richter in Den Haag sehen den neuen Militäreinsatz im Süden des Gazastreifens als Bedrohung für das Leben der Zivilbevölkerung. Der internationale Druck auf Israel nimmt damit weiter zu.
Nach der Beantragung eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant hat Israel einen weiteren Rückschlag vor Gericht erlitten. Der Internationale Gerichtshof (ICJ) wies Israel am Freitag an, seine Offensive in Rafah sofort zu stoppen. Der Militäreinsatz im Süden des Gazastreifens stelle ein immenses Risiko für die Bevölkerung dar, urteilte das oberste Uno-Gericht in Den Haag. Mit der Anweisung zur Evakuierung von Rafah habe Israel nicht genug zum Schutz der Zivilisten getan.
Die humanitäre Situation sei desaströs, erklärten die Richter. Mehr als 800 000 Menschen hätten wegen der israelischen Luftangriffe und der Bodenoffensive seit Anfang Mai Rafah verlassen müssen. In der von Israel für die Flüchtlinge ausgewiesenen Schutzzone von al-Mawasi gebe es keine ausreichenden Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen. In dem agrarisch genutzten Gebiet an der Küste des Mittelmeers habe es weder feste Unterkünfte noch hinreichend Trinkwasser.
Das Gericht gab damit im Verfahren gegen Israel wegen Verletzung der Genozidkonvention einem Antrag Südafrikas auf Erlass zusätzlicher Sofortmassnahmen statt. Südafrika hatte argumentiert, dass die Offensive auf Rafah eine Veränderung der Situation bedeute, die den Erlass weiterer Massnahmen erfordere. Der ICJ hatte bereits im Januar auf Antrag von Südafrika mehr Hilfslieferungen gefordert und im März die Öffnung weiterer Grenzübergänge verlangt.
Israel hat sich über alle Warnungen hinweggesetzt
Die Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs sind für alle Uno-Mitglieder bindend. Allerdings hat das Gericht keine Möglichkeit, seine Beschlüsse in der Praxis durchzusetzen. Es ist daher fraglich, ob sich Israel daran halten wird. Die israelischen Vertreter hatten vergangene Woche bei einer Anhörung in dem Fall die Vorwürfe Südafrikas zurückgewiesen und betont, bei der Offensive in Rafah handle es sich um eine örtlich begrenzte Operation. Zudem sieht Israel die Schuld für die Blockade der Hilfslieferungen bei Ägypten.
Der Entscheid des Gerichts erhöht trotzdem den Druck auf Israel, die Offensive zu stoppen. Es hatte bereits im Februar vor einem Angriff auf die Stadt gewarnt, die infolge der Kämpfe im Norden des Gazastreifens zum Zufluchtsort von 1,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern geworden war. Selbst die USA, Israels engster Verbündeter, hatten Netanyahu wegen der drohenden humanitären Konsequenzen mit Nachdruck aufgefordert, von einer Offensive abzusehen.
Der israelische Regierungschef argumentiert, dass eine Offensive auf Rafah notwendig sei, um die verbleibenden Hamas-Brigaden zu zerschlagen. Selbst in der Armeeführung gibt es aber vermehrt Zweifel, dass das bisherige Vorgehen zum Erfolg führt. Denn sobald die Armee ihre Truppen aus einem Gebiet abzieht, formiert sich die Hamas dort neu. Die Armee ist damit gezwungen, immer wieder in Städte zurückzukehren, die sie eigentlich bereits gesichert hatte.
Netanyahu gerät immer mehr unter Druck
Es ist zunehmend klar, dass es ohne eine Alternative zur Hamas-Verwaltung nicht möglich sein wird, den Gazastreifen auf Dauer zu halten. Verteidigungsminister Gallant forderte daher vergangene Woche Netanyahu auf, endlich eine Strategie für die Nachkriegsordnung vorzulegen. Der Oppositionspolitiker Benny Gantz, der seit Oktober dem Kriegskabinett angehört, setzte Netanyahu zudem ein Ultimatum bis zum 8. Juni, um einen Plan für die Zeit nach dem Krieg zu präsentieren. Andernfalls werde er das Kriegskabinett verlassen.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Karim Khan, beantragte am Montag Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er begründete dies damit, dass die Abriegelung des Gazastreifens als Versuch zur Aushungerung der Bevölkerung gedeutet werden könne. Obwohl Khan auch Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer beantragte, stiess sein Vorgehen in Israel auf breite Empörung.
Inmitten der Aufregung um den Antrag des Chefanklägers kündigten am Dienstag Spanien, Irland und Norwegen an, Palästina als Staat anzuerkennen. Besonders Spanien übte dabei scharfe Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen. Dass nun auch noch der Internationale Gerichtshof den Stopp der Offensive in Rafah fordert, dürfte Israels Kritiker in ihrer Haltung bestärken. Die Richter ordneten zusätzlich an, dass Israel alle Grenzübergänge offen halten müsse. Zudem müsse es jeder Uno-Untersuchungskommission ungehinderten Zugang zum Gazastreifen gewähren.