Die Aktien der grossen Energiekonzerne glänzen mit hohen Renditen und geringen Bewertungen. Die Unterbewertung der europäischen Anbieter macht diese besonders attraktiv.
Gross, mächtig, schwerfällig und keine Zukunft: In Zeiten der Klimaerwärmung ist die Meinung verbreitet, dass die breit diversifizierten Energiekonzerne dem Untergang geweiht sind. Demnach sitzen die politisch unter Beschuss stehenden Dinosaurier des fossilen Zeitalters zwar auf riesigen Vermögenswerten. Der Wert dieser Energiereserven und der dazugehörigen Infrastruktur verflüchtigt sich jedoch rasch, weil in einer Welt der erneuerbaren Energien ihr Markt- und Ertragswert wertlos sind.
Angesichts dieses Narrativs ist es kein Wunder, wurden die Aktien dieser Unternehmen von den Investoren verschmäht – doch das Umfeld ändert sich.
Zu früh für tot erklärt
Die Pandemiezeit und die Energiekrise in Europa haben gezeigt, dass die obige These eher einem Wunschdenken entspringt. Die fossilen Energieträger werden uns – ob wir es wollen oder nicht – noch lange begleiten. Die Nachricht vom Tod von «Big Oil» kam verfrüht.
Diese Erkenntnis setzt sich langsam auch an der Börse durch. Die lange Zeit geringgeschätzten Aktien der grossen, integrierten Energiemultis sind nicht mehr so unbeliebt wie einst. Diese Unternehmen decken die gesamte Wertschöpfungskette der fossilen Energie ab, von der Erkundung und der Förderung von Erdöl und -gas (Upstream), dem Transport und der Lagerung (Midstream) bis zur Verarbeitung zu Fertigprodukten und zu deren Verkauf (Downstream).
In den vergangenen drei Jahre schnitten die Valoren der weltweit grössten Energiekonzerne besser ab als der Gesamtmarkt. Mit Ausnahme von Equinor (vormals Statoil) und Eni entwickeln sie sich auch dieses Jahr ansprechend.
In ihrer Bewertung spiegelt sich dies jedoch (noch) nicht. Weiterhin wird der Sektor vom Markt mit einem happigen Risikoabschlag bestraft. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) ist angesichts der hohen Gewinnmargen, der geringen Verschuldung und der ausserordentlich hohen Ausschüttungen an die Aktionäre bescheiden und die Dividendenrendite überdurchschnittlich hoch. Gegenüber dem Gesamtmarkt werden Energieaktien mit einem Abschlag von rund 40% gehandelt.
Die Strategien der Unternehmen sind sich sehr ähnlich. Weil sie davon ausgehen, dass der Bedarf an fossiler Energie längerfristig geringer ausfallen wird, drosseln sie die Investitionen in neue Vorkommen. Auch wenn der Zeitpunkt der grössten Ölnachfrage nicht so rasch wie erwartet kommen wird – die Internationale Energieagentur (IEA) sieht den Zenit derzeit vor 2030 –, nimmt die Nachfrage, ausser im Pandemiejahr 2020, weiterhin Jahr für Jahr zu. In den vergangenen dreissig Jahren stieg die globale Erdölnachfrage im Durchschnitt um 1,05 Mio. Fass pro Tag. Dieses Jahr erwartet die IEA eine Zunahme um 1,2 Mio. Fass auf rekordhohe gut 103 Mio. Fass pro Tag.
Die Unternehmen verwenden ihre Mittel vorwiegend für die Alimentierung ihrer traditionell generösen Dividenden sowie für Aktienrückkäufe. Die fünf «Supermajors» (Exxon, Chevron, Shell, Total und BP) schütteten im vergangenen Jahr rekordhohe 113,8 Mrd. $ in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen aus, 10% mehr als im Vorjahr und sogar 76% mehr als in der Periode 2011 bis 2014, als der Erdölpreis über 100 $ je Fass lag.
Investiert wird in neue Bereiche, wie den Aufbau von Ladestationen, Wasserstoff, Flüssigerdgas (LNG) und CCS-Verfahren zur Abscheidung und zur Lagerung von CO2.
Trotz hoher bis rekordhoher Gewinne in den jüngsten Jahren agieren die Unternehmen finanziell diszipliniert, es werden Schulden getilgt und Sparprogramme lanciert, um die Betriebskosten zu senken.
Das sind alles Massnahmen im Sinne der Aktionäre. Offen bleibt zwar die Rentabilität der «grünen» Projekte. Doch um bei den nach ESG-Kriterien investierenden Anlegern einigermassen zu bestehen, ist dieses Verhalten wohl unerlässlich.
Zwei Welten
Unübersehbar ist jedoch die Kluft zwischen den amerikanischen und den europäischen Energiekonzernen. Die Aktien der US-Konzerne geniessen eine deutlich höhere Bewertung. An einer besseren Rentabilität kann dies nicht liegen. Vielmehr dürfte es mit der unterschiedlichen Gewichtung von ESG-Kriterien zusammenhängen. Je grösser das US-Aktionariat eines Unternehmens, desto geringer ist der ESG-Abschlag der Titel.
ExxonMobil kauft sich Vorkommen
Für den nach dem saudischen Riesen Aramco grössten Energiekonzern ExxonMobil hat die höhere Bewertung den Vorteil, dass er seine Valoren als Akquisitionswährung einsetzen kann. Anfang Monat wurde die Übernahme von Pioneer Natural Resources besiegelt. Die als Fusion strukturierte Transaktion im Wert von 64,5 Mrd. $, die vollständig mit eigenen Aktien finanziert wurde, wird Exxons Fördermenge im amerikanischen Permian-Becken auf 1,3 Mio. Fass pro Tag verdoppeln. 2027 sollen es 2 Mio. Fass pro Tag werden. Das an Mexiko angrenzende Gebiet ist das ertragreichste der USA.
Als nächstes Objekt der Begierde ist Guyana ins Blickfeld von ExxonMobil geraten. Gerne würde sie die Beteiligung von Hess in dieser Region erwerben.
Trotz der jüngsten Grossübernahme sieht sich Exxons Management in der Lage, künftig wieder jedes Jahr bis zu 20 Mrd. $ für Aktienrückkäufe einzusetzen. Das ist nur möglich, weil sich bei ExxonMobil die Ertragslage enorm verbessert hat. Während es in der Pandemie Quartalsverluste von 20 Mrd. $ gab, wurden drei Jahre später schon wieder über 11 Mrd. $ Gewinn geschrieben.
Die gute finanzielle Verfassung ist nicht nur den höheren Energiepreisen zu verdanken, sondern ist auch das Resultat von Einsparungen. Bis 2027 sollen die jährlichen Kosten um 5 Mrd. $ reduziert und kumuliert 15 Mrd. $ eingespart werden. Schon in den vergangenen fünf Jahren gingen die Kosten um 9 Mrd. $ zurück.
Die bis 2027 gehenden Mittelfristziele sind entsprechend ambitiös: Bis dann sollen der Gewinn und der Cashflow gegenüber dem Vorpandemiejahr 2019 verdoppelt werden. Die 2021 noch bei 41 $ pro Fass liegende Gewinnschwelle soll bis dann auf 35 $ sinken.
Im vergangenen Jahr gingen 7 Mrd. $, davon 3,8 Mrd. $ als Dividende, an die Aktionäre. Auch künftig können sie mit hohen Ausschüttungen rechnen. Seit Jahrzehnten wird die Dividende kontinuierlich erhöht. In den vergangenen 41 Jahren stieg sie im Schnitt 5,8%.
Chevron wird Dividendenaristokrat
Auch der zweitgrösste US-Energiemulti lässt sich nicht lumpen: Jedes Jahr sollen 3 bis 6% der Titel am Markt zurückgekauft werden, was 10 bis 20 Mrd. $ jährlich kosten wird. Die Aktionäre können mit einer steigenden Dividende rechnen. Seit dem Zusammenschluss mit dem Schmiermittelhersteller Unocal im August 2005 hat Chevron die Dividende ununterbrochen erhöht. Im Startquartal 2024 wurden den Aktionären je 3 Mrd. $ mit Dividenden und Aktienrückkäufen ausgeschüttet.
Diese Generosität kann sich das Unternehmen nur leisten, weil es rentabler geworden ist. Von 2017 bis 2022 hat es die Kapitalrendite (ROCE) um 8 Prozentpunkte verbessert. Im ersten Quartal 2024 erreichte sie einen Spitzenwert von 12,4%.
In der Mittelfristplanung (bis 2027) strebt Chevron einen ROCE von über 12% sowie eine Verdoppelung des freien Cashflows an.
Für vorübergehende Unsicherheit sorgt die hängige Übernahme von Hess. Im Herbst 2023 hatte Chevron ein Angebot von 53 Mrd. $ in Aktien unterbreitet. Vom darauffolgenden Kurseinbruch haben sich die Valoren noch nicht erholt, denn gegen die Transaktion hat ExxonMobil Einspruch eingelegt. Zankapfel ist Hess› lukrative Beteiligung in Guyana, einem der umfangreichsten, neuen Vorkommen (Break-even bereits bei rund 30 $ je Fass). ExxonMobil stellt sich auf den Standpunkt, sie verfüge über ein Vorkaufsrecht.
Die Hess-Aktionäre werden am 28. Mai über Chevrons Offerte befinden. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sich der Abschluss des auch politisch heiklen Deals bis ins kommende Jahr verzögern und sich für Chevron verteuern wird.
Shell favorisiert Flüssigerdgas
Weniger Investitionen, dafür höhere Ausschüttungen sind auch bei Shell angesagt. Der britisch-niederländische Konzern hat Anfang 2022 sein Domizil nach Grossbritannien verlegt, eine Einheitsaktie geschaffen und nennt sich nur noch Shell (zuvor: Royal Dutch Shell).
Seit der Übernahme von BG Group 2015 ist er der grösste LNG-Produzent (2023: 67 Mio. Tonnen); er deckt fast ein Fünftel des weltweiten Bedarfs ab.
Dieses und nächstes Jahr will er nur noch 22 bis 25 Mrd. $ (bisher 23 bis 27 Mrd.) investieren, gleichzeitig sollen bis Ende nächsten Jahres 2 bis 3 Mrd. $ Kosten eingespart werden. Das riesige Tankstellennetz wird konsolidiert, in den verbleibenden Standorten indes das Sortiment ausgebaut. Dazu gehören auch Ladestationen für Elektrofahrzeuge. Mit über 54 000 Ladestationen verfügt Shell nach Tesla über das grösste Ladenetz. Bis 2030 sollen es 200 000 werden.
Wie bis anhin verfolgt Shell eine aktionärsfreundliche Dividendenpolitik. Künftig sollen über einen Wirtschaftszyklus 30 bis 40% des operativen Cashflows an die Aktionäre gehen. Die Dividende im Schnitt um 4% erhöhen, lautet die Vorgabe.
Alles dient dazu, die Bewertung zu verbessern. Im vergangenen Jahr gingen vom Gewinn von 28 Mrd. $ rund 23 Mrd. $ an die Aktionäre. Bei steigenden Erdölpreisen sollen entsprechend mehr Titel zurückgekauft und Schulden getilgt werden, verspricht das Management.
Auch für die nachfossile Zeit bereitet sich das Unternehmen vor. In die Bereiche Biotreibstoffe, Wasserstoff und CCS werden Milliarden investiert, einige Jahre später sollen sie in Form von Gewinn zurückfliessen. Trotzdem steht Shell wie alle europäischen Energiekonzerne unter Druck, ihre Strategie enger an den Pariser Klimazielen auszurichten. An der gestrigen Generalversammlung musste sie sich diesen Forderungen ihrer institutionellen Aktionäre stellen.
TotalEnergies mit hohen Reserven
Der französische Wettbewerber TotalEnergies brilliert mit umfangreichen fossilen Reserven sowie sehr geringen Förderkosten. Im Schlussquartal beliefen sich die Produktionskosten auf 5.01 $ je Fass, dieses Jahr sollen sie unter 5 $ sinken. Bei der Konkurrenz sind sie doppelt so hoch. Gemäss Unternehmensangaben liegt die Gewinnschwelle bei TotalEnergies unter 25 $ je Fass. Und während die Mitbewerber ihre derzeitigen Reserven in knapp zehn Jahren ausgeschöpft sehen, sollen sie bei TotalEnergies zwölf Jahre reichen.
Die Franzosen zeigen sich gegenüber ihren Aktionären ebenfalls spendabel. Dieses Jahr feiert TotalEnergies ihr hundertjähriges Bestehen, eine Sonderausschüttung würde nicht überraschen. Und seit zwei Jahren kauft sie jedes Quartal für 2 Mrd. $ eigene Aktien zurück.
BP im Rückstand
Etwas im Rückstand befindet sich BP. Das überrascht nicht, der britische Anbieter hat im Vergleich mit der Konkurrenz am meisten aufzuräumen. Er steckt mitten in der Transformation von einer integrierten Erdöl- zu einer integrierten Energiegesellschaft. 2025 will er einen Gewinn auf Stufe Ebitda von 46 bis 49 Mrd. $ erwirtschaften (2023: 39,2 Mrd. $), wovon nur noch 30 bis 32 Mrd. $ aus dem Erdöl- und -gasbereich kommen sollen.
Kurzfristig läuft es aber harzig: Vergangene Woche kündigte der Konzern ein Sparprogramm über 2 Mrd. $ bis Ende 2026 an. Das Ergebnis des Startquartals fiel unter den Erwartungen aus, die Nettoschulden nahmen auf 24 Mrd. $ zu.
Trotzdem kauft das Unternehmen kontinuierlich eigene Aktien zurück. Seit 2021 wurden dafür fast 22 Mrd. $ eingesetzt, was zu einer Gewinnverdichtung von 17% führte. Künftig sollen nach Abzug der Investitionen von 16 Mrd. $ im Jahr 80% des verbleibenden operativen Cashflows dafür verwendet werden.
Equinor ohne Nettoschulden
Im Gegensatz zur Konkurrenz tendieren die Aktien der zu zwei Dritteln vom norwegischen Staat kontrollierten Equinor seit Monaten nach unten. Die Rentabilität und die Bilanz sind bereits derart gut, dass es fast nur schlechter kommen kann. Das nimmt die sehr geringe Bewertung vorweg.
Trotzdem sieht das Management weiteres Verbesserungspotenzial. Obwohl die Kapitalrendite (ROCE) mit 15% bereits gut ist, soll sie bis 2035 auf 25% steigen.
Ohne Nettoschulden und mit fast 39 Mrd. $ Liquidität können Projekte mühelos finanziert werden. Die für die nächsten zehn Jahre geplanten Vorhaben kommen im Schnitt ab einem Erdölpreis von 35 $ je Fass in die Gewinnzone. Stark ausgebaut wird das Portfolio erneuerbarer Energien. Von derzeit 1 Gigawatt (GW) soll die Leistung bis 2030 auf 12 bis 16 GW ausgebaut werden.
Das Aktienrückkaufprogramm wird dieses und nächstes Jahr je rund 6 Mrd. $ erhöht, längerfristig sollen jährlich für 1,2 Mrd. $ eigene Titel erworben werden, wobei die Staatsbeteiligung fix bei 67% bleibt.
Eni wird schneller
Noch viel Verbesserungspotenzial gibt es beim italienischen Energiemulti Eni. Künftig will er nur noch 45% des Cashflows oder rund 20% weniger für Investitionen ausgeben. Schwerpunktmässig sollen sie in Projekte mit Erdgas und erneuerbaren Energien fliessen. Zwischen Abbau und Vermarktung sollen weniger als vier Jahre verstreichen. Bis 2027 will Eni pro Fass mehr als 27 $ Cashflow, sprich: rund ein Drittel mehr (2023: 20 $), erwirtschaften.
Einer grundlegenden Konsolidierung wird das Geschäft mit Chemikalien (Versalis) unterzogen. Die Tochtergesellschaft soll zum Spezialitätenchemiekonzern umgebaut werden. 2025 soll sie die Gewinnschwelle, 2026 einen Betriebsgewinn und ab 2027 einen freien Cashflow erreichen.
Auch bei Eni soll eine Tankstelle zur Energiestation werden, samt Lademöglichkeiten, Restaurants und Einkaufsläden.
Künftig erhalten die Eni-Aktionäre einen grösseren Anteil am operativen Cashflow. Dank vermehrter Aktienrückkäufe werden 30 bis 35% statt wie bisher 25 bis 30% an sie ausgeschüttet.
In den USA ist es angenehmer
Im globalen Energiegeschäft sind die Europäer gegenüber den Amerikanern notorisch am kürzeren Hebel, weil ihre Unternehmen vom Markt seit Jahren mit einem Abschlag belegt werden. Während die Aktien der beiden Amerikaner mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 12 gehandelt werden, kommen die Europäer im Schnitt auf nur 8, sind also 50% niedriger bewertet.
Die aktionärsfreundlichen Gesten der Europäer verfehlen zwar nicht die erwünschte Wirkung, doch sie reichen nicht aus, um die Lücke zu schliessen. Deshalb erwägen einige von ihnen, den Sitz und/oder die Kotierung in die USA zu verlegen. Damit sich die Bewertungen angleichen, müssten die Aktien der Europäer aber Aufnahme in einen US-Index finden.
Shell-Konzernchef Wael Sawan erklärte Anfang Monat, ein solcher Schritt sei nicht ausgeschlossen, einen unmittelbaren Wechsel schliesst er jedoch aus. Auch sein französischer Kollege Patrick Pouyanné sagte gegenüber Analysten, dass der Verwaltungsrat von TotalEnergies einen solchen Schritt ernsthaft prüfe. BP stellte ein solches Ansinnen in Abrede.
Nach Meinung von The Market haben unter den Europäern vor allem die Aktien von Shell und TotalEnergies weiteres Kurspotenzial. Zudem scheinen sie für eine dekarbonisierte Zukunft besser gerüstet zu sein. Die beiden Amerikaner bleiben prinzipiell attraktive Investitionen. Kurzfristig könnten Verdauungsschwierigkeiten bei den Grossakquisitionen das Bild etwas trüben.