Mit einer grossangelegten Attacke auf israelisches Staatsgebiet setzen die Teheraner Strategen auf volles Risiko. Iran hat viel zu verlieren – sofern Israel die richtigen Schlüsse zieht.
Zwei Wochen lang war spekuliert worden: Wie würde Iran auf die Tötung hochrangiger Militärs der Revolutionswächter am 1. April in Damaskus reagieren? Würde es sich mit einem symbolischen Gegenschlag gegen ein israelisches Ziel irgendwo im Ausland begnügen? Würde es seinen Verbündeten vorschicken, die schiitische Hizbullah-Miliz in Libanon, um sich selbst nicht zu exponieren? Oder würde es den direkten Angriff wagen?
Nun herrscht Gewissheit: In der Nacht auf Sonntag hat das Regime in Teheran mehr als 300 Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen auf israelisches Territorium abgefeuert. Damit setzt es auf volles Risiko und tritt aus dem Schatten – mitten in den nahöstlichen Ring. Nie seit dem 7. Oktober war die Gefahr eines Flächenbrandes so gross wie heute.
Bisher hatte Teheran vor allem hinter den Kulissen seine geopolitischen Interessen vorangetrieben, als treibende Kraft der sogenannten «Achse des Widerstands» mit verbündeten Milizen in Libanon, in Jemen, im Irak und den palästinensischen Gebieten. Es ist eigentlich ein grundlegender Teil der iranischen Doktrin, Konflikte vom eigenen Staatsgebiet fernzuhalten.
Nun hat sich Iran jedoch entschlossen, ein Signal der Stärke auszusenden und seinen Anspruch als Regionalmacht zu bekräftigen. Mit den Bildern von Explosionen am Himmel über Jerusalem ist dem Regime in der Welt der Israel-Feinde ein Propagandacoup gelungen. Gleichzeitig wussten aber auch die Strategen in Teheran, dass ein Grossteil der Drohnen und Raketen abgefangen und der Angriff den jüdischen Staat nicht gefährden würde.
Trotzdem war die Attacke von Samstagnacht nicht nur eine Showeinlage. Der Einsatz von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern zeigt, dass Iran durchaus beabsichtigte, Schaden anzurichten – was in kleinem Ausmass auch gelang. Sehr schnell liess es allerdings verlauten, dass die Sache nun erledigt sei, und warnte Israel eindringlich davor, zurückzuschlagen.
Alle Augen auf Israel
In Teheran scheint man darauf zu hoffen, dass das Gleichgewicht der Abschreckung nun wiederhergestellt ist und man zum Business as usual zurückkehren kann. Dies könnte sich allerdings als gefährliche Fehlkalkulation erweisen. Die Israeli hatten schon im Vorfeld davor gewarnt, dass im Falle eines Angriffs schwere Vergeltungsmassnahmen folgen würden. Mit Sicherheit werden sie diese präzedenzlose Attacke nicht unbeantwortet lassen.
Nun richten sich alle Augen auf Israel. Eine Reaktion wird kommen – nur welche? Es ist zu hoffen, dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sein Versprechen einhält, «besonnen» zu reagieren. Klar ist: Ein überstürzter militärischer Gegenschlag wäre nicht im strategischen Interesse Israels. Zu gross sind die Spannungen im Nahen Osten seit dem 7. Oktober. Die Gefahr ist real, dass die Situation ausser Kontrolle gerät und die ganze Region in einen hässlichen Krieg gerissen wird, in dem es nur Verlierer gibt.
Vielmehr bieten sich Israel nun einmalige strategische Chancen. Seit Jahren warnt es vor den Ränkespielen Irans, dessen Atomprogramm und dessen Bestreben, die Region mittels seiner Stellvertreter-Milizen zu destabilisieren. Als Netanyahu im vergangenen Sommer durch westliche Hauptstädte tourte, hatten die Staatschefs für seine Warnungen aber nur ein müdes Lächeln übrig. Dabei ist sowohl dem Westen wie auch den Golfmonarchien eigentlich bewusst, dass Iran mit seiner Unterstützung von Hamas, Hizbullah, Huthi und Co. die grösste Gefahr für die Stabilität der Region darstellt.
In letzter Zeit hatten sich wegen des zerstörerischen Krieges in Gaza zahlreiche Verbündete von Israel abgewendet. Nun stehen sie angesichts des iranischen Angriffs wieder felsenfest an der Seite des jüdischen Staates. Am Wochenende beteiligte sich sogar das arabische Nachbarland Jordanien an der Abwehr der iranischen Raketen, obwohl die Beziehungen eigentlich auf einem Tiefpunkt sind.
Israel sollte die Gunst der Stunde nutzen, um gemeinsam mit seinen Partnern am Golf, in der Region und im Westen eine langfristige Strategie aufzugleisen, um den iranischen Einfluss in der Region schrittweise zurückzudrängen – und seine eigene Position zu festigen.