Die Wut ist grösser als die Angst. Die iranische Bevölkerung will das Regime loswerden. Manche sind bereit, dafür israelische Raketen über Irans Himmel zu sehen.
«Die Stadt ist ruhig und friedlich», heisst es im Text zum Video, das der iranische staatliche Fernsehsender Press-TV um sieben Uhr morgens am 19. April auf seinen sozialen Kanälen postet, nur wenige Stunden nach dem mutmasslichen Angriff Israels. In der Nähe des Luftwaffenstützpunktes Schekari im Nordwesten der Provinz Isfahan seien am Morgen drei Explosionen zu hören gewesen, schreibt die Nachrichtenagentur Fars. Fars sowie Press-TV stehen der Islamischen Revolutionsgarde nahe.
Die Sprachrohre der Islamischen Revolutionsgarden vermitteln: Alles unter Kontrolle. Unterstellt sind sie dem obersten Staats- und Revolutionsführer Ayatollah Khamenei. Dem Geburtstagskind. Er wird an diesem 19. April 85 Jahre alt. Ein Geburtstagsgruss der Israeli für den religiösen Führer?
Gesetzt der Fall, Israels Angriff bestätige sich, kann man fast schon sagen, dass die gegenseitigen Vergeltungsschläge, trotz anheizenden Hardlinern auf beiden Seiten, choreografiert abliefen. Mit Irans Angriff auf Israel am 13. April mutierte der Schattenkrieg zwischen den beiden Parteien zum direkten Schlagabtausch. Er blieb vorerst ohne weitere Eskalationen, doch ist er voller Botschaften. Botschaften, die sich die zwei Erzfeinde zuspielen. Botschaften der Deeskalation, der Machtdemonstration, nach innen, nach aussen.
Spott soll bestraft werden
Den Menschen in Iran, die die Geschehnisse über die sozialen Netzwerke im Minutentakt verfolgen, bleibt oft nur noch sarkastischer Humor. Er lenkt sie für einen kurzen Moment von ihren täglichen Sorgen ab und ihrer Angst, dass sie die Folgen eines Krieges tragen müssen. «Der Weg ist das Ziel», spotten Iraner zunächst über den Angriff der Islamischen Republik auf Israel auf Social Media. Sie meinen damit die Drohnen, die im Zuge des Angriffs der Islamischen Republik Iran stundenlang Richtung Israel flogen. Und von denen keine einzige im israelischen Luftraum ankam.
Feiernde Menschen, wie es das Staatsfernsehen der Islamischen Republik zeigt, sieht man kaum auf den Strassen. Nur eben im Staatsfernsehen. Die Kameras fangen den Jubel von ein paar hundert Iranern in Teheran auf dem Palästina-Platz ein, im Hintergrund sieht man eine digitale Uhr, die seit 2017 die Restzeit Israels herunterzählt. Im Jahr 2040 stoppt die Uhr. Dann soll Ali Khameneis Prophezeiung Wirklichkeit geworden und das Ziel von Staatsgründer Ayatollah Khomeiny erreicht worden sein. Die Anhänger des Regimes stehen immer dort. Es sind vielleicht 15 Prozent, verteilt übers ganze Land.
Rund 90 Millionen Menschen leben in Iran. Krieg ist das Letzte, was sie brauchen. Die Mehrheit macht das eigene Regime für die Eskalation verantwortlich. Einige zeigen sich sogar solidarisch mit Israel. Der Geheimdienst der Revolutionsgarde verfasst noch am Tag des Angriffs eine schriftliche Warnung: «Geliebte Landsleute, wenn Sie Unterstützung der Scheinregierung Israels im Netz sehen, melden Sie es uns so schnell wie möglich.»
Die Iraner haben sich an Einschüchterung unter Androhung von Strafe gewöhnt. Auch Spott soll bestraft werden. Trotzdem kursieren Bilder im Netz, auf denen der Ayatollah auf einer fliegenden Gurke reitet. Oder das Bild einer Rakete, überzogen mit einem Kondom. Es symbolisiert die Vorsicht, mit der der iranische Angriff durchgeführt wurde.
Eine weitere Karikatur zeigt zwei Frauen, die aus einem Gefängnisfenster blicken. Der einen wird auf der Schwarz-Weiss-Zeichnung ein Knüppel mit dem Emblem der Islamischen Republik über den Kopf gezogen, Blut. Die andere bleibt davon verschont, während sie an israelische Raketen denkt.
Die Israeli als Retter? Hat die Staatspropaganda während der letzten 45 Jahre nicht gefruchtet? Auf Nachfrage in Isfahan höre ich (vor dem mutmasslichen Angriff Israels am Freitagmorgen): «Hoffentlich trifft Israel die Mullahs direkt. Die wollen uns erzählen, sie hätten Israel plattgemacht, sie lügen.» Tatsächlich suggeriert das Regime in Teheran, dass der Angriff erfolgreich gewesen sei, ohne die überschaubare Trefferquote von einem Prozent zu erwähnen.
Auf den Telegram-Kanälen der Revolutionsgarde zirkulieren Bilder, auf denen Dutzende Drohnen zu sehen sind, unter ihnen die Welt, und darauf ein brennender Davidsstern. Die iranische Tageszeitung «Hamshari» zeigt eine Karikatur von Netanyahu, gefesselt mit dicken Seilen, die von rechts und links zuziehen, so dass sie ihn schier zerquetschen. Die Überschrift: «Hände gebunden».
Ein Propagandavideo von IRNA, der staatlichen Nachrichtenagentur der Islamischen Republik Iran, zeigt Revolutionsgardisten, die durch dunkle unterirdische Tunnel kriechen, entlang an Raketen. Deren Chef, Hossein Salami, sagt dabei: «Wir haben eine Entscheidung für eine neue Ordnung getroffen. Wenn das zionistische Regime unsere Interessen, unser Vermögen, unsere Persönlichkeiten oder unsere Bürger angreift, werden wir vom Boden der Islamischen Republik aus Vergeltung üben.» Dann sieht man, wie Raketen in Israel einschlagen, unterlegt mit Kindergeschrei und «Allahu akbar»-Rufen.
Damit will das Regime der Islamischen Republik suggerieren, fest im Sattel zu sitzen. Doch diese Art der Propaganda mag dem israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu in die Hände spielen, schliesslich untermauert das iranische Regime damit seinen Ruf, die grösste Gefahr der Region darzustellen.
Zurück zum Alltag der Kriegsstimmung
Auf nochmalige Nachfrage in Isfahan heisst es am Freitag, dem 19. April, der mutmassliche israelische Angriff sei zu schwach ausgefallen: «Was war das? So wird das Regime nicht fallen.» Die alte Dame aus Isfahan hat einen gemeinsamen Nenner mit Netanyahus rechtsextremem Koalitionspartner Ben Gvir. Dieser postete nach dem Angriff auf X: «Schwach.» Die Enttäuschung mag gleich sein, das Ziel ein anderes.
«So, jetzt können wir wieder zum Alltag übergehen», schreibt mir am Freitagmorgen eine Bekannte aus Teheran. Der Alltag, in dem Mädchen und Frauen gerade seit Tagen massiv der Sittenpolizei ausgesetzt sind. Die Wächter der Revolution müssen darauf achten, dass ihnen die Macht nicht entgleitet. Dafür haben sie ihre Mittel. Die Kriegsstimmung hat die Preise noch weiter nach oben getrieben. Iranerinnen und Iraner bekommen kaum noch etwas für ihr Gehalt. Teilweise sind die Preise der Lebensmittel um hundert Prozent gestiegen.
«Solange wir nicht wissen, wie wir unsere Mieten bezahlen sollen, unsere Kinder satt bekommen, so lange drehen wir uns im Kreis», sagt mir eine junge Frau aus Tabriz. Zu mehr habe sie keine Zeit, weil sie überleben müsse. Die iranische Bevölkerung habe keine freie Minute, um darüber nachzudenken, was Sicherheit bedeute, was Fortschritt bedeute. Sie verabscheue inzwischen Europa, die USA, Israel – sie alle handelten nur aus eigenem Interesse.
Die Welt atmet ein wenig auf, der Status quo bleibt für den Moment bestehen, bisher blieb der iranische Angriff ohne Eskalation. Die Islamische Republik hat es geschafft zu überleben, mit einer Strategie, die seit 45 Jahren funktioniert: zündeln, sich brüsten, herunterspielen, dementieren. Doch das Regime in Teheran solle Angst haben, «vor uns», sagt mir die junge Frau. Tag für Tag würden sie durch zivilen Ungehorsam dem islamischen Regime ihre Verachtung zeigen. Sie wollen das Regime loswerden, um jeden Preis. Manche sind sogar bereit, dafür israelische Raketen über Irans Himmel zu sehen.
Natalie Amiri ist eine deutsch-iranische Journalistin. Sie leitete von 2015 bis April 2020 das ARD-Studio in Teheran.