Islands Wirtschaft stützt sich auf Tourismus. Doch mehr Touristen bedeuten nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Probleme. Reise durch ein Land, das zu verschwinden droht.
Am frühen Morgen schaukeln im Hafen von Isafjördur ein paar Fischerboote, Möwen kreischen, in der Luft schwebt ein Fischgeruch. Sonst wirkt das Dorf im äussersten Zipfel Islands verlassen. Eine Idylle wie aus dem Reiseprospekt. Damit ist es vorbei, als die Deutschen kommen – kurz vor 10 Uhr, in einem schwimmenden Hochhaus mit aufgemalten roten Lippen.
Aus den seitlichen Öffnungen des Kreuzfahrtschiffs «Aidaluna» strömen Touristen. Fast so viele, wie Isafjördur Einwohner hat. Sie sind ausgerüstet mit Deuter-Rucksäcken, Smartphones und Regenschirmen, die sich im Wind umdrehen. Auf dem Quai warten ein halbes Dutzend Reisecars, um den Touristen «das Leben in den Westfjorden», den Wasserfall Dunjandi oder «Isafjördurs Umgebung auf einen Blick» zu zeigen. Die Bucket-List im Schnelldurchlauf abarbeiten – dafür muss man nur den richtigen Bus finden.
Mit seinen Vulkanen, heissen Quellen und unzähligen Wasserfällen war Island einst vor allem eine Destination für naturverbundene Abenteurer. In den letzten Jahren ist die Insel im Nordatlantik zu einer Massendestination geworden. Jährlich besuchen Island etwa fünf Mal so viele Menschen, wie das Land Einwohner hat. Der Tourismus ist für die Isländerinnen und Isländer mittlerweile wichtiger als die Fischerei oder die Aluminiumindustrie.
Der Boom hat Folgen. Die Reisenden suchen in Island die unberührte Natur, atemberaubende Aussichten, lebendige Folklore – und zerstören das, wonach sie suchen, indem sie es finden: Natur, Aussicht, Folklore.
Reise durch ein Land, das zu verschwinden droht.
Das Dorf und die Deutschen
Ein Mann – mittleres Alter, Wanderhosen und Spiegelreflexkamera – lehnt an eine Hausfassade. Von weitem sieht es so aus, als spähe er durch das Fenster des Hauses, bei näherer Betrachtung sucht er unter dem Vordach wohl nur Schutz vor dem Regen. Ein paar Meter weiter vorne geht eine Frau mit ausgestrecktem Smartphone rückwärts auf die Fahrbahn, um ein Foto von einem Haus (und einem halben Dutzend anderer Touristen) zu machen. Vor dem Wollladen ruft eine Dame im Pensionsalter ihrer Freundin zu: «Och guck mal, hier hinten sind Pullover. Mal gucken, ob ich mir ein Muster abgucken kann.»
In sicherer Entfernung von diesem Trubel sitzt die Bürgermeisterin Arna Lara Jonsdottir in ihrem Büro im ersten Stock des Gemeindehauses. An der Wand läuft eine Powerpoint-Präsentation. Jonsdottir sagt: «Der Kreuzfahrttourismus ist ein kontroverses Thema in Island, aber nicht hier in Isafjördur.» Der Grund ist einfach: Das Dorf braucht die Touristen. Isafjördur liegt nicht an der beliebten Ringstrasse, die um die Hauptinsel führt. Zufällig verirrt sich niemand hierher. Die Mehrheit der Reisenden – im letzten Jahr waren es 184 435 Personen – kommt per Schiff.
Jonsdottir zeigt auf eine fettgedruckte, blaue Zahl: 3 Milliarden isländische Kronen (20 Millionen Euro), so viel hat das Dorf 2023 durch die Kreuzfahrttouristen eingenommen. Die Saison dauert etwa sechs Wochen. Von dem Geld zehren die Läden und Restaurants, die lokale Brauerei und der Hafen das ganze Jahr. Ohne die Touristen – das ist in Isafjördur allen klar – könnten weder Geschäfte noch der Hafen überleben.
Doch mehr Touristen bedeuten nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Probleme: Passanten, die durch Fenster in private Häuser gaffen, weil sie sie für Museen halten. Leute, die ihre Notdurft in der freien Natur verrichten, weil sie keine Toilette finden. Oder Menschenmengen, die den Verkehr zum Erliegen bringen, weil sie die Fahrbahn als Trottoir nutzen.
In diesem Chaos sollen Hilmar Kristjansson Lyngmo und Heimir Hansson für Ordnung sorgen. Lyngmo arbeitet als Hafenmeister, Hansson leitet die lokale Touristeninformation. Lyngmo sagt: «Wir müssen beweisen, dass wir die Kontrolle behalten – sonst schwindet die Akzeptanz in der Bevölkerung.» Die wichtigste Massnahme: Isafjördur hat die maximale Anzahl der Kreuzfahrtpassagiere dieses Jahr auf 7000 pro Tag begrenzt.
Während Lyngmo die Buchungen der Kreuzfahrtschiffe bis zu drei Jahre im Voraus koordiniert, löst Hansson alltäglichere Probleme. Er sagt: «Manche Passagiere sind sehr gut informiert, andere meinen, wir seien hier in Norwegen.» Hanssons Aufgabe ist es, für alle ein passendes Programm zu finden – eines, das in den engen Zeitplan passt. «Das Gute daran ist, dass die Leute in der Regel keine Zeit haben, sich in Gefahr zu begeben.»
Isafjördur hat verschiedene Massnahmen ergriffen, um den Tourismus und das alltägliche Leben in Einklang zu bringen. Den Kreuzfahrtpassagieren werden Handouts mit Verhaltensregeln ausgehändigt («Auf dem Trottoir bleiben!», «Wohnhäuser nicht ohne Einladung betreten!», «Keine Kinder fotografieren!»). Wenn mehr als 3000 Touristinnen und Touristen im Dorf sind, wird die Hauptstrasse für den motorisierten Verkehr gesperrt. Nachdem es Ende Mai fast zu einem Unfall zwischen einem Gabelstapler und Passanten gekommen war, liessen Lyngmo und Hansson auf dem Pier Zäune aufstellen.
Doch ein Problem bleibt: In dem kleinen Fischerdorf fehlt die Infrastruktur für den Massentourismus. In den nächsten Jahren soll sich das ändern. Für den Hafen existieren bereits Umbaupläne. In der Gemeinde sind mehr öffentliche Toiletten, mehr Parkplätze und eine bessere Beschilderung vorgesehen.
Isafjördur wird sich verändern. Was dem Örtchen droht, ist bereits in Thingvellir zu sehen, dem Nationalpark am Golden Circle.
Der Ranger mit dem Parkplatzproblem
Der Thingvellir-Nationalpark ist für die Isländerinnen und Isländer ein heiliger Ort. In Zeitlupentempo reissen tektonische Kräfte hier die Eurasische und die Nordamerikanische Kontinentalplatte auseinander. Entstanden ist eine Landschaft voller Spalten und Schluchten, durch die man wandern, reiten oder tauchen kann. Im Jahr 930 wurde in Thingvellir das isländische Parlament gegründet, 2004 wurde der Ort in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen. Man kann hier zahlreiche Vogelarten und den Polarfuchs beobachten – und einen Konvoi von Dacia Dusters, dem häufigsten Mietauto in Island.
An diesem Junitag fegt ein Schneesturm über die karge Landschaft. Der Parkranger Gunnar Grimsson steht auf der Aussichtsplattform, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und deutet in die Ferne. Der Blick wandert über Felsen, einen Fluss und bleibt dann an etwas hängen, was die Mondlandschaft durchbricht: ein Parkplatz.
Wenn Grimsson über Parkplätze spricht, klingt er wie ein Politiker im Zürcher Stadtparlament: Es hat zu wenige, sie sind am falschen Ort, und auch wenn alle mit der Situation unzufrieden sind, dauert es Jahre, bis alte Parkfelder beseitigt und neue gebaut werden.
Die Parkplätze sind für den Nationalpark die wichtigste Einnahmequelle. Thingvellir liegt am Golden Circle, der beliebtesten Sightseeing-Route unweit von Reykjavik. Laut Grimsson kommen 75 Prozent aller Touristen, die Island besuchen, hierher. Im Sommer zählt der Ort pro Tag über 8000 Besucherinnen und Besucher.
Doch die Parkplätze sind auch ein Problem, zumindest der vor der Aussichtsplattform: «Er stört die Landschaft, die wir ja eigentlich schützen wollen», sagt Grimsson und seufzt. Zwei Kilometer weiter nördlich gäbe es einen geeigneteren Ort für die Parkfelder. «Aber dann müssten die Leute den Weg zum Besucherzentrum zu Fuss gehen.» Zu Fuss gehen – das ist nicht unbedingt das, was Touristen am Golden Circle erwarten.
In Thingvellir kann man die Natur erleben, ohne die Natur zu erleben. Der Vorplatz vor dem Besucherzentrum ist gepflastert und asphaltiert, daneben steht ein ganzer Anbau mit Toiletten. Kieswege führen die Touristen sicher durch die Felsen, und Schilder warnen vor Gefahren, die im Nationalpark lauern: «Sturzgefahr!», «Steinschlag!», «Taschendiebe!». Die Infrastruktur soll die Touristen vor der Natur, vor allem aber die Natur vor den Touristen schützen.
Die meisten Besucher bleiben laut Grimsson ein bis zwei Stunden. Eine junge Asiatin – Jeansrock, weisse Turnschuhe, Handtasche – steht auf einem Gehweg, der durch einen Felsspalt führt, die Arme ausgestreckt, und posiert für ein Foto. Reiseführer und Influencer werben damit, dass man in Thingvellir Nordamerika und Europa gleichzeitig berühren könne. Die Wahrheit ist etwas komplizierter, aber Grimsson sagt: «Das macht nichts. Die Leute sind glücklich, das ist doch das Wichtigste.»
In Island verändert der Tourismus auch die Gesellschaft, die Kultur. Die Reisebranche ist auf ausländische Arbeitnehmer angewiesen, Migrantinnen und Migranten machen inzwischen 18 Prozent der Bevölkerung aus. «Man kann heute wohl um die ganze Insel reisen, ohne einem einzigen Isländer zu begegnen», sagt Grimsson. Die Touristen erwarten das authentische Erlebnis, den eingeborenen Guide – und treffen auf Menschen wie Odysseas Chloridis.
Der Grieche, der den Touristen Island erklärt
Odysseas Chloridis sitzt in einem hippen Café in Reykjavik und scrollt durch Bilder auf seinem Laptop. Sie zeigen die Absurdität des isländischen Tourismus: Feriengäste, die auf Lavafeldern laufen, Menschen mit Selfie-Sticks, Massen, die sich um Wasserfälle drängen. Chloridis stammt aus der griechischen Hafenstadt Thessaloniki, 3877 Kilometer Luftlinie von Reykjavik entfernt, und ist eigentlich freischaffender Fotograf. Dass er heute den Touristen Island erklärt, hat viel mit Zufällen zu tun.
Chloridis kam vor zweieinhalb Jahren als Austauschstudent nach Island – und entschied sich zu bleiben. Um Geld zu verdienen, arbeitete er in einer Bar, als er einen Anruf von einem isländischen Freund bekam. Dieser war krank geworden und suchte verzweifelt jemanden, der als Guide bei einer Polarlichter-Tour einspringen würde. Chloridis, der noch nie zuvor eine Tour geleitet hatte und erst seit wenigen Monaten in Island lebte, übernahm. Er selbst fand seine Performance «ziemlich mies». Die Firma aber war derart begeistert, dass sie ihn behalten wollte.
Inzwischen kennt Chloridis das Land wohl besser als viele Isländer selbst. Aber: Chloridis ist kein Isländer. «Auch wenn es noch nie jemand offen gesagt hat: Ich glaube, die Leute sind manchmal enttäuscht, wenn sie mich als Guide bekommen.» In Islands Tourismusbranche ist inzwischen jeder dritte Arbeitnehmer ein Immigrant – Tendenz steigend. Das isländische Frühstück in den Hotels wird von Polinnen zubereitet, die isländischen Sagen von Griechen erzählt.
Chloridis spricht von einer «Goldgräberstimmung». Leute aus aller Welt kämen nach Island, um in wenigen Jahren möglichst viel Geld zu verdienen. Auch er ist der Perspektivlosigkeit seines Heimatlandes entflohen. «Hier habe ich berufliche Möglichkeiten, die ich in Griechenland niemals hätte, einen vernünftigen Lohn und ein gutes Leben.» Ausländische Guides müssten sich stärker beweisen als Isländerinnen und Isländer. Für Chloridis ist das ein Ansporn, sich stärker zu bemühen, sich besser vorzubereiten. «Vielleicht sind wir deshalb manchmal sogar besser als die Einheimischen selbst.»
An einer Massendestination zu arbeiten, bedeutet Touristen, die in Jeans und Turnschuhen Krater besteigen wollen. Reisende, die am helllichten Tag Nordlichter erwarten. Oder die im August enttäuscht sind, wenn sie keine Papageientaucher sehen. Chloridis sagt: «Die Leute kommen oft mit einer Bucket-List, das Wichtigste für viele ist es, ein gutes Foto zu bekommen.» Seine Aufgabe als Guide sei es, ihnen zu zeigen, dass Island noch mehr zu bieten habe als das perfekte Bild.







