Die Übernahme des sogenannten Philadelphi-Korridors ist seit Monaten ein strategisches Ziel Netanyahus. Nun hat die israelische Armee dort mehrere Tunnel entdeckt. Doch das Vorgehen könnte die Beziehungen zu Ägypten verkomplizieren.
Die israelische Armee hat am Mittwochabend verkündet, sie habe die «operative Kontrolle» über den sogenannten Philadelphi-Korridor übernommen. Dabei handelt es sich um einen 14 Kilometer langen und 100 Meter breiten Landstreifen entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten. Das würde bedeuten, dass Israel nun die gesamte Landgrenze zum Nachbarstaat kontrolliert.
Laut dem israelischen Armeesprecher Daniel Hagari wurden in dem Korridor zum einen mehrere Abschussanlagen für Raketen entdeckt. Die Hamas habe diese bewusst dort positioniert, weil Israel bei einem Angriff auf die Anlagen riskiere, ägyptisches Staatsgebiet zu treffen. Zum anderen seien dort rund zwanzig Tunnel entdeckt worden, die mutmasslich nach Ägypten führten. Diese seien eine «Sauerstoffpipeline» für den Waffenschmuggel der Hamas. Israel habe Ägypten über die Entwicklungen informiert.
Am Mittwoch waren israelische Verbände weiter auf die Stadt Rafah vorgerückt, in der sich nach wie vor Hunderttausende Palästinenser befinden. Der Vorstoss bewegte sich immer noch innerhalb der Zone, für die das Militär vor einigen Wochen einen Evakuierungsbefehl erlassen hatte. Seither haben rund eine Million Menschen die Stadt verlassen. Arabische Medien berichteten von heftigen Feuergefechten und Luftangriffen in Rafah.
Ägypten dementiert die Existenz von Tunneln
Israels Vorstoss auf Rafah, der Anfang Mai begonnen hatte, sorgt international für Kritik. Vergangenen Freitag wies der Internationale Gerichtshof in Den Haag Israel an, die Offensive sofort einzustellen. Auch die amerikanische Regierung von Joe Biden warnt seit Wochen vor einer Ausweitung der Operation und droht damit, die Lieferung von Offensivwaffen an Israel einzustellen. Am Sonntag sorgten zudem tödliche Luftangriffe im Norden Rafahs für Empörung. Israels Ministerpräsident Netanyahu entschuldigte sich daraufhin für den «tragischen Fehler».
Angesprochen auf die israelische Übernahme des Philadelphi-Korridors, deutete ein Sprecher des Weissen Hauses, John Kirby, am Mittwoch jedoch an, dass die rote Linie der USA damit nicht überschritten sei. «Als Israel uns über seine Pläne für Rafah informierte, beinhaltete dies, sich entlang dieses Korridors zu bewegen, um Druck auf die Hamas in der Stadt auszuüben», sagte er am Mittwoch gegenüber Journalisten.
Derweil zitierte der staatsnahe ägyptische Fernsehsender al-Qahera eine hochrangige ägyptische Quelle, wonach die Berichte über Tunnel nach Ägypten nicht stimmten. «Israel benutzt diese Anschuldigungen, um die Fortsetzung der Operation gegen die palästinensische Stadt Rafah zu rechtfertigen und den Krieg zu politischen Zwecken zu verlängern», hiess es. Die ägyptische Regierung hat sich noch nicht offiziell zu den Entwicklungen geäussert. Dennoch dürfte die Operation die israelisch-ägyptischen Beziehungen zusätzlich belasten.
Florierender Schmuggel unter der Grenze
Der Philadelphi-Korridor war im Rahmen des Camp-David-Abkommens zwischen Ägypten und Israel im Jahr 1978 entstanden. Die Idee war, eine Pufferzone zu schaffen, um bewaffnete Übergriffe zu verhindern und den Schmuggel zu unterbinden. Bis zu Israels Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 befand sich der Landstreifen unter israelischer Kontrolle. Daraufhin wurde im sogenannten Philadelphi-Abkommen festgelegt, dass Ägypten eine genau definierte Zahl von Truppen auf seiner Seite der Grenze einsetzen dürfe. Auf der anderen Seite übernahm die Palästinensische Autonomiebehörde (PA).
Doch schon zwei Jahre später wurde die PA von der islamistischen Hamas entmachtet. In der Folge errichteten Israel und Ägypten eine Blockade des Küstengebiets. Doch bald schon florierte der Schmuggel von Gütern und Waffen über Tunnel unter der Grenze. Zwar hat Ägypten seit 2013 immer wieder unterirdische Gänge zerstört oder geflutet, doch konnte es den Schmuggel damit offenbar nicht ganz stoppen.
Bereits wenige Wochen nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober hatte der israelische Ministerpräsident Netanyahu deshalb erklärt, dass Israel den Korridor kontrollieren müsse. Aus Ägypten kam umgehend die Warnung, dass jede Besetzung des Gebiets die Bestimmungen des Friedensabkommens von 1978 verletzen würde. Kairo fürchtet seit Kriegsbeginn einen Ansturm von palästinensischen Flüchtlingen auf sein Staatsgebiet.
«Jahr des Krieges»
Zuletzt haben sich die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel deutlich verschlechtert. Anfang Mai übernahm die israelische Armee die Kontrolle über den Grenzübergang von Rafah, der Gaza und Ägypten verbindet. Seither weigert sich Kairo, Hilfsgüter über den Grenzübergang zu schicken. Nach einer Intervention von Joe Biden willigte Ägypten vergangene Woche immerhin ein, vorübergehend Hilfslieferungen über den benachbarten Übergang Kerem Shalom via Israel zuzulassen.
Derweil stellt die israelische Regierung ihr Land auf einen langen Krieg ein. Der Berater für nationale Sicherheit, Tzachi Hanegbi, sagte am Montag, er gehe davon aus, dass die Kämpfe noch weitere sieben Monate andauern würden. 2024 werde ein «Jahr des Krieges» sein.