Die Islamisten aus Gaza setzen auf Psychoterror, Israel droht mit einer Invasion in Rafah. Doch auch innerhalb der israelischen Regierung sorgen die Verhandlungen über die Geiseln für Streit – es droht ein Bruch der Koalition.
Dieser Tage entscheidet sich, ob ein neues Abkommen für die Rückkehr der israelischen Geiseln zustande kommt oder ob der Gaza-Krieg weiter eskaliert. Israelische Politiker haben in den letzten Tagen gesagt, dass ein Angriff auf Rafah unmittelbar bevorstehe, falls die Hamas erneut ein Angebot für ein Geiselabkommen ausschlage. Am Montag reiste eine Delegation der palästinensischen Terrororganisation in die ägyptische Hauptstadt Kairo, um das israelische Angebot zu prüfen.
Dieses sei «ausserordentlich grosszügig», sagte der amerikanische Aussenminister Antony Blinken, der sich derzeit erneut auf einer Nahost-Tour befindet, am Montag in der saudischen Hauptstadt Riad. Laut Medienberichten hat sich Israel in den vergangenen Tagen bewegt – und fordert nur noch die Freilassung von 33 Geiseln in der ersten Phase eines Abkommens statt wie zuvor 40.
Im Gegenzug habe sich Israel zu einem 40-tägigen Waffenstillstand und der Freilassung von potenziell Tausenden von palästinensischen Gefangenen bereit erklärt, sagte der britische Aussenminister David Cameron, der sich am Montag ebenfalls in Riad am Weltwirtschaftsforum aufhielt. Bisher hatte die Hamas immer auf einem kompletten Ende des Kriegs bestanden.
Gleichzeitig hat Israel jüngst den Druck auf die Hamas erhöht. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Armee Fotos und Videos von Dutzenden Panzern in der Nähe des Grenzübergangs Kerem Shalom im Süden Israels. Ausserdem zeigen Satellitenbilder Tausende von neuen Zelten im südlichen Gazastreifen, die auf Vorbereitungen zur Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Rafah hindeuten.
Die Hamas setzt ihrerseits auf verstärkten Psychoterror: In den vergangenen fünf Tagen veröffentlichte sie zwei Videos, die drei israelische Geiseln zeigen. In Israel forderten am Wochenende erneut Zehntausende Demonstranten die Regierung auf, ein Abkommen einzugehen, auch nahm der politische Streit neue Fahrt auf.
Rechtsextreme und Zentristen drohen damit, die Regierung zu sprengen
Sowohl Benny Gantz, der im Oktober in das Kriegskabinett eingetreten war, wie auch Finanzminister Bezalel Smotrich drohten damit, die Regierung zu sprengen – allerdings aus gegensätzlichen Gründen. Am Sonntag sagte Smotrich, die Regierung habe kein Recht mehr zu existieren, falls sie keine Offensive auf Rafah anordne. In einem Video nannte der rechtsextreme Finanzminister ein Geiselabkommen eine «demütigende Kapitulation vor den Nazis». Auch Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, sagte, ein Abkommen würde den Zusammenbruch der Regierung bedeuten.
Diese Äusserungen wurden mit Wut und grosser Enttäuschung bei den Angehörigen der Geiseln aufgenommen. «Offenbar gehen ihm die jüdischen Werte ab, mit denen wir alle aufwuchsen und die wir als Fundament Israels ansehen», sagte Lee Siegel mit Blick auf Smotrich am Montagabend bei einer Medienkonferenz des Geiselforums in Tel Aviv. Er ist der Bruder des 64-jährigen Keith Siegel, den die Hamas in einem ihrer Videos zeigte.
Der zentristische Oppositionspolitiker Gantz gestand zwar zu, dass die Militäroperation in Rafah im Kampf gegen die Hamas langfristig wichtig sei, doch die Rückkehr der Geiseln sei dringender. Sollte ein vernünftiges Abkommen, das von der Armee unterstützt werde, von jenen Ministern verhindert werden, die die Regierung am 7. Oktober geführt hätten, habe diese Regierung kein Recht mehr zu existieren, sagte Gantz.
Ben-Gvir und Smotrich sind Teil der regulären Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, doch sie sind keine Mitglieder des Kriegskabinetts, das alle Entscheidungen zur Kriegsführung trifft. In diesem Gremium bestimmen Gantz, Netanyahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant.
Eigentlich geht es um ein anderes Abkommen
Ägypten, das von Katar die Rolle des Vermittlers zwischen den Kriegsparteien übernommen hat, zeigte sich am Montag vorsichtig optimistisch. Der ägyptische Ministerpräsident Mustafa Madbuli sagte an einer Konferenz des Weltwirtschaftsforums in Riad, dass es Fortschritte gebe, aber weiterhin Hürden existierten.
«Die liegen vor allem darin begründet, dass beide Parteien intern unter grossem Druck stehen – sowohl Israel als auch die Hamas.» Dies deutet darauf hin, dass die Hamas-Führung im katarischen Exil sowie die Anführer in Gaza unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Bedingungen akzeptabel sind.
Hinter den Kulissen geht es um ein anderes Abkommen von noch grösserer Tragweite. Blinken sagte, die USA hätten mit Saudiarabien intensiv an den Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Golfmonarchie und Israel gearbeitet. Eine Vereinbarung sei fast fertig. Die Annäherung der beiden Staaten war wohl einer der Gründe für das Massaker am 7. Oktober – die Hamas wollte eine Normalisierung der Beziehungen unbedingt verhindern.
Der saudische Aussenminister Faisal bin Farhan Al Saud sagte allerdings am Montag, sollten ein Waffenstillstand und eine Perspektive für einen palästinensischen Staat ausbleiben, sei es schwierig für arabische Staaten, einen Nachkriegsplan für Gaza zu diskutieren.
Das zeigt: Während das Geiselabkommen an einem seidenen Faden hängt, sind die Erfolgsaussichten für eine Normalisierung der Beziehungen mit Saudiarabien noch geringer. Denn selbst wenn die israelische Regierung den Streit um die Offensive in Rafah überleben sollte, ist es kaum denkbar, dass die rechtsextremen Koalitionspartner Netanyahus auch nur ein Lippenbekenntnis zu einem palästinensischen Staat akzeptieren würden.