Israels Ankündigung einer Offensive auf die südlichste Stadt des Gazastreifens hat international Besorgnis ausgelöst. An der Grenze zu Ägypten suchen Hunderttausende von Menschen Zuflucht.
Die Hoffnung auf ein baldiges Schweigen der Waffen im Gazastreifen scheint vorerst geplatzt, nachdem der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Mittwoch einem Vorschlag der Hamas für eine erneute Feuerpause eine deutliche Absage erteilt hat. Die Terrorgruppe hatte unter anderem einen vollständigen Abzug der israelischen Armee und Verhandlungen über ein Ende des Krieges gefordert. Netanyahu bezeichnete diese Bedingungen als «wahnhaft».
Er gab sich überzeugt, dass die israelischen Geiseln nur durch militärischen Druck zu befreien seien – und bestätigte, dass er die Streitkräfte angewiesen habe, sich auf einen Einmarsch nach Rafah vorzubereiten. Zuvor hatte schon Verteidigungsminister Yoav Gallant bestätigt, dass Israel einen Vorstoss nach Rafah plane. Ob dieser schon begonnen hat, ist unklar. Am Donnerstag gab es Berichte über Luftangriffe, bei denen zahlreiche Menschen getötet worden seien.
Die Stadt im Süden des Gazastreifens liegt direkt an der ägyptischen Grenze. Sie gilt als einer der letzten Zufluchtsorte der palästinensischen Zivilbevölkerung. Seit Oktober hat sich die Bevölkerungszahl der Stadt mehr als verfünffacht – es sollen sich dort bis zu 1,5 Millionen Menschen aufhalten. Rund um die völlig überfüllte Stadt sind riesige Zeltstädte entstanden, in denen die Menschen unter prekären Bedingungen leben. Über den Grenzübergang von Rafah gelangen zudem jeden Tag Lastwagen mit Hilfsgütern in das Küstengebiet.
Netanyahu fordert konkrete Pläne von der Armee
Dementsprechend löste Netanyahus Ankündigung umgehend besorgte Reaktionen aus. Ein Sprecher des Weissen Hauses sagte am Donnerstag, es wäre ein Desaster, ein solches Vorhaben ohne Planung und Bedacht durchzuführen: «Wir haben noch keinen Beweis für eine ernsthafte Planung einer solchen Operation gesehen.» Uno-Generalsekretär António Guterres sagte, eine Militäroffensive in Rafah würde das, «was bereits ein humanitärer Albtraum ist, exponentiell verschlimmern, mit unabsehbaren regionalen Konsequenzen».
Am Freitagnachmittag veröffentlichte Netanyahus Büro eine Erklärung, die offensichtlich auf Beschwichtigung abzielte. Die Armee sei angewiesen worden, dem Kriegskabinett Pläne für die Evakuierung der palästinensischen Zivilbevölkerung wie auch für die Zerschlagung der Hamas-Bataillone in Rafah vorzulegen. «Es ist klar, dass eine massive Operation in Rafah die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus den Kampfzonen erfordert», heisst es in der Erklärung.
Allerdings bleibt völlig offen, wie eine solche Evakuierung ablaufen könnte und wohin Hunderttausende von Menschen gebracht werden sollen. Denn weite Teile des Gazastreifens sind entweder zerstört oder aktive Kampfzonen. Und die von Israel definierte «humanitäre Zone» bei al-Mawasi am Meer ist bereits überfüllt.
Israels Pläne dürften vor allem in Kairo für Aufregung sorgen. Die ägyptische Regierung befürchtet schon lange eine Flüchtlingswelle auf den Sinai. Laut einem Bericht der «New York Times» drängt Israel auf diplomatischen Kanälen Ägypten dazu, für die Dauer des Krieges eine grosse Zahl von Palästinensern aufzunehmen. Angeblich hat Kairo deshalb die Befestigungen an der Grenze weiter verstärkt.
Hamas-Polizei in Rafah
Gleichzeitig ist Rafah offenbar nach wie vor fest in der Hand der Hamas. In Netanyahus Erklärung vom Freitag ist die Rede von vier Hamas-Bataillonen, die sich in Rafah befänden. Ein Uno-Vertreter sagte gegenüber dem «Guardian», die Stadt sei aufgrund der Präsenz der Hamas-Polizei der letzte Ort, an dem noch eine zivile Ordnung herrsche. Laut dem Bericht arbeiten Hilfsorganisationen bei der Verteilung von Lebensmitteln weiterhin mit Beamten zusammen, die von der Hamas ernannt wurden.
Die israelische Armee vermutet, dass sich wichtige Anführer der Hamas in Rafah verstecken. Mutmasslich werden dort auch mehrere der über hundert noch lebenden israelischen Geiseln gefangen gehalten. Es ist allerdings denkbar, dass sich Israel bei einem Vorstoss im Süden nicht nur auf Rafah konzentrieren wird. Ende des vergangenen Jahres sagte Netanyahu: «Der Philadelphi-Korridor muss in unseren Händen sein, er muss geschlossen werden.»
Damit meint er den Streifen entlang der ägyptischen Grenze. Israelische Beamte gehen davon aus, dass die Hamas einen grossen Teil ihrer Waffen über diesen Korridor schmuggelt. Offensichtlich beabsichtigt Netanyahu, künftig auch die Südgrenze des Gazastreifens zu kontrollieren, um den Schmuggel zu unterbinden.
Verhandlungen gehen weiter
Derweil nimmt der internationale Druck auf Israel weiter zu. So hat der amerikanische Präsident Joe Biden am Donnerstag ein Memorandum erlassen, das von Verbündeten, die von den USA Militärhilfe erhalten, «glaubwürdige und verlässliche schriftliche Zusicherungen» verlangt, dass sie sich an das Völkerrecht halten. Israel wird dabei zwar nicht erwähnt, doch die Weisung könnte Signalwirkung haben. Schon länger gibt es Berichte, dass Biden eine Reduktion der Waffenlieferungen an Israel erwägt, um Netanyahu unter Druck zu setzen.
Gleichzeitig gehen offenbar hinter den Kulissen die Verhandlungen über eine erneute Feuerpause trotz Netanyahus Zurückweisung der Forderung der Hamas weiter. Sowohl israelische als auch amerikanische Vertreter haben in den vergangenen Tagen betont, das Fenster für ein Abkommen sei noch nicht ganz geschlossen. Am Donnerstag soll auch eine Hamas-Delegation zu Gesprächen in Kairo eingetroffen sein.