Im Sommer hatte Israels Oberstes Gericht geurteilt, dass auch strenggläubige Juden ins Militär müssen. Dies will Benjamin Netanyahu mit einem höchst unpopulären Gesetz weitgehend vermeiden – es geht ihm dabei auch um seinen Machterhalt.
Eigentlich hätte sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu über die Neujahrstage ausruhen sollen: Am 29. Dezember hatte er im Spital eine Operation zur Entfernung seiner Prostata über sich ergehen lassen müssen, und seine Ärzte hatten ihm eine mehrtägige Bettruhe verordnet. Doch nur zwei Tage später schleppte sich der sichtlich geschwächte Netanyahu ins Parlament, um an einer Abstimmung teilzunehmen.
Das hat weniger mit Netanyahus Liebe zu seinem Beruf zu tun als mit dem Umstand, dass es in seiner Regierungskoalition mächtig brodelt. Am jenem 31. Dezember stand eine wichtige Abstimmung über ein Budget-Gesetz an – und ausgerechnet jetzt versagten zwei der Koalitionsparteien der Regierung ihre Unterstützung, darunter die ultraorthodoxe Partei Agudat Yisrael. Sie hatte angekündigt, erst dann für das Gesetz zu stimmen, wenn strenggläubige Juden wieder vom Armeedienst ausgenommen würden.
Die Budget-Vorlage, die dem israelischen Staat inmitten des kostspieligen Krieges wichtige Steuereinnahmen verschaffen soll, drohte folglich abzustürzen. In letzter Minute gelang es der Koalition, das Gesetz mit einer hauchdünnen Mehrheit zu verabschieden – dank einigen Abweichlern sowie der Stimme des aus dem Spital getürmten Ministerpräsidenten. Diesmal ist es also gerade noch gutgegangen – doch die Ultraorthodoxen setzen Netanyahu weiterhin unter Druck. Deshalb will dieser schleunigst eine Lösung finden.
Netanyahu hat einen Plan
Während Jahrzehnten waren die strenggläubigen Juden, die sogenannten Haredim, vom obligatorischen Armeedienst ausgenommen gewesen. Doch im vergangenen Sommer hatte Israels Oberstes Gericht geurteilt, dass es für diese Ausnahmepraxis keine gesetzliche Grundlage mehr gebe. Deshalb müssten sich alle ultraorthodoxen Männer im wehrfähigen Alter zum Dienst melden. Die Haredim-Parteien schäumten vor Wut – und fordern seither ultimativ ein neues Gesetz, mit dem ihre Wählerbasis den Militärdienst umgehen kann.
Zuletzt drohte etwa der ultraorthodoxe Politiker Yitzhak Goldknopf öffentlich damit, die Koalition platzen zu lassen: «Ohne ein Rekrutierungsgesetz haben wir keinen Grund, in der Regierung zu bleiben», sagte er. Zwar gehören solche Drohgebärden zum politischen Alltag in Israel – dennoch bietet die Thematik eine ärgerliche Angriffsfläche für die Netanyahu-Regierung, wie sich zuletzt am 31. Dezember gezeigt hat.
Inzwischen hat der Ministerpräsident allerdings einen Plan ausgeheckt: Er will eine alte Vorlage reaktivieren, die schon 2022 in der ersten von drei Lesungen im Parlament verabschiedet worden war. Sie sieht unter anderem eine Einberufungsquote für Haredim vor, die sich über die Jahre langsam erhöhen würde. Derzeit wird das Gesetz in der parlamentarischen Kommission für die zweite Lesung vorbereitet. Kritiker sehen in der Vorlage allerdings einen Papiertiger, der die bis 2024 geltende Ausnahmepraxis weitgehend fortsetzen und somit auch die durch den Krieg verursachten, massiven Personalprobleme der Armee keineswegs lösen würde.
Zu den erbittertsten Gegnern des Gesetzes gehört auch Israels ehemaliger Verteidigungsminister Yoav Gallant, den Netanyahu im Oktober entlassen hatte – nicht zuletzt, weil sich dieser eisern für eine allgemeine Dienstpflicht ausspricht. Nun hat Gallant am Neujahrstag aus Protest seinen Rücktritt aus dem Parlament verkündet. In einer Fernsehansprache sagte er: «Sie treiben ein Rekrutierungsgesetz voran, das der Sicherheit Israels zuwiderläuft. Das kann ich nicht mittragen.»
Nur zehn Prozent melden sich zum Dienst
Gallant macht mit seinem Rücktritt aus der Knesset jedoch den Weg frei für einen Nachfolger aus den Reihen des Likud, der Netanyahus Pläne eher mittragen dürfte. Dennoch ist keineswegs garantiert, dass eine neue Ausnahmepraxis im Parlament eine Mehrheit findet – auch innerhalb der Koalition gibt es zahlreiche Abgeordnete, die von der Notwendigkeit einer Dienstpflicht für die Haredim überzeugt sind und eine grundlegende Überarbeitung des Gesetzes fordern. Netanyahu hat deshalb zuletzt seinen neuen Verteidigungsminister Israel Katz damit beauftragt, diese Parlamentarier auf Linie zu bringen.
Katz reagierte denn auch mit Verachtung auf Gallants Rücktritt und verteidigte das Gesetzesvorhaben am Donnerstag vehement: «Nach seiner Fertigstellung wird das neue Rekrutierungsgesetz einen historischen Wendepunkt darstellen und Zehntausende von Ultraorthodoxen für einen sinnvollen Dienst rekrutieren.»
Ob dies gelingen kann, ist allerdings fraglich. So hatten die israelischen Streitkräfte (IDF) nach dem Gerichtsurteil vom vergangenen Sommer damit begonnen, Tausende von Stellungsbefehlen an junge Haredim zu verschicken. Laut Angaben der IDF meldeten sich weniger als zehn Prozent der Männer zum Dienst. Derweil forderten ultraorthodoxe Rabbiner die Männer dazu auf, ihre Stellungsbefehle zu zerreissen und die Toilette hinunterzuspülen.
Die Ausnahmepraxis ist extrem unbeliebt
Selbst wenn die Koalition sich dereinst auf eine neue Rekrutierungspraxis für die Haredim einigen kann, dürfte dies in der israelischen Gesellschaft grossen Unmut auslösen. Die meisten säkularen Israeli empfinden es als zutiefst ungerecht, dass sie seit Monaten kämpfen müssen, während die Ultraorthodoxen unbescholten zu Hause bleiben können. Zuletzt hat eine Umfrage gezeigt, dass sich inzwischen 85 Prozent der Israeli für eine Dienstpflicht für ihre strenggläubigen Mitbürger sowie Strafen für Dienstverweigerer aussprechen. Vor einem Jahr lag dieser Wert noch bei 67 Prozent.
In den 15 Monaten des Krieges haben sich nicht nur die Meinungen der Israeli geändert, sondern auch die Bedürfnisse der Armee: Die IDF gehen davon aus, dass die Sicherheitslage Israels noch während Jahren angespannt sein wird. Deshalb brauchen sie laut eigenen Angaben dringend mehrere tausend Soldaten. Doch die Pläne der Netanyahu-Regierung lassen vermuten, dass die Personalprobleme der Armee so bald wohl nicht gelöst werden.