Bei der Militäroperation in mehreren Flüchtlingssiedlungen werden mindestens 17 Palästinenser getötet. Die Truppen richten sich offenbar auf einen längeren Einsatz ein.
Die israelische Armee hat im Westjordanland den grössten Militäreinsatz seit 22 Jahren gestartet. Unter dem Titel «Verteidigungsschild» stürmten Einheiten seit Wochenbeginn die Flüchtlingslager der Städte Jenin, Tulkarem und Tubas. In den seit 1948 bestehenden Lagern leben aus dem heutigen Israel vertriebene Palästinenser in dritter oder vierter Generation.
Die hohe Arbeitslosigkeit und die sozialen Probleme in den Lagern haben radikale Gruppen dazu genutzt, Jugendliche für ihren Kampf gegen die Besetzung des Westjordanlandes anzuwerben. Bei den regelmässigen Razzien der israelischen Armee in den Camps kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Was jetzt geschieht, hat jedoch eine andere Dimension. Jenin, Tubas und das Flüchtlingslager al-Farah in Tulkarem wurden vollständig abgeriegelt. Den Bewohnern von al-Farah gab die Armee drei Stunden Zeit, um die Siedlung zu verlassen. Danach durchsuchten Spezialeinheiten die Häuser nach Waffen.
In Tulkarem kamen bei dem Sturm auf eine Moschee nach Angaben der israelischen Armee fünf Anhänger der Terrororganisation Islamischer Jihad ums Leben. Damit steigt die Zahl der seit Dienstag getöteten Palästinenser auf 17. Seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober wurden im Westjordanland über 350 Menschen bei Kämpfen mit Sicherheitskräften, Angriffen von Siedlern oder Razzien getötet.
In den Flüchtlingslagern versuchen die Hamas und Gruppen wie der Islamische Jihad die im Westjordanland tonangebenden Sicherheitskräfte von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu verdrängen. Die Flüchtlingslager liegen im Hoheitsbereich der Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch viele Schulen und Krankenhäuser werden von der für die Palästinenser zuständigen UNRWA-Mission betrieben oder unterstützt.
Die Abbas unterstellten Sicherheitskräfte stehen wegen ihrer Kooperation mit den israelischen Behörden in der Kritik. Sie zogen sich am Dienstag unmittelbar vor den anrückenden israelischen Armee-Einheiten zurück.
Zahlreiche palästinensische Journalisten und Rettungskräfte des Roten Halbmondes aus Ramallah versuchen derzeit, in die abgeriegelten Gebiete zu gelangen. Da die Hauptstrassen nach Norden durch die Armee abgeriegelt wurden, sind Jenin und Tulkarem nur über Schleichwege zu erreichen.
Ein Schauplatz des Konflikts mit Iran?
Palästinensische Fernsehsender zeigten das Anrücken der langen Konvois von gepanzerten Fahrzeugen der israelischen Armee live. Die Soldaten dringen auf der Suche nach palästinensischen Kämpfern auch in Nablus und an anderen Orten in Häuser ein.
Über den Journalisten schwebten Drohnen, berichtet Nasr Abubakr von der Gewerkschaft der Journalisten in Ramallah. «Ich fordere die israelische Armee auf, meine Kollegen frei berichten zu lassen und sie nicht wie in der Vergangenheit ins Visier zu nehmen. Durch die Drohnen wissen die Soldaten genau, auf wen sie zielen.» Bei Razzien der Armee wurden in den letzten Jahren immer wieder palästinensische Journalisten verletzt oder getötet.
«Dies ist ein Krieg der Narrative», sagt Abubakr im Gespräch. «Aus unserer Sicht sind die Gründe für solche Aktionen vorgeschoben. Es geht um die Einschüchterung der Bevölkerung, bei der die Empörung über die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza stetig steigt.»
Die israelische Regierung beschreibt die Aktion als Teil des Konfliktes mit Iran. Man habe Informationen erhalten, dass Iran Waffen in das Gebiet geschmuggelt habe, sagte Präsident Yitzhak Herzog. In einer Fernsehansprache rechtfertigte er das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte. «Das ist nun ein Krieg, und wir sollten in den Terrorhochburgen ähnlich wie in Gaza vorgehen.»
Auch Kampfflugzeuge und Scharfschützen sind im Einsatz. Offenbar haben sie sich auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Die Telefonleitungen nach Jenin wurden gekappt, die Zufahrtsstrassen zu den Flüchtlingslagern werden seit Dienstag mit schweren Bulldozern aufgerissen.
Ein Grund für die Militäroffensive soll ein gescheiterter Selbstmordanschlag in Tel Aviv sein. Am 18. August war ein aus Nablus stammender Palästinenser in Tel Aviv mit einem Sprengsatz unterwegs. Da die in seinem Rucksack versteckte Bombe explodierte, bevor er ein Einkaufszentrum betreten konnte, wurden nur einige Passanten leicht verletzt. Die Polizei in Tel Aviv nimmt an, dass die Terrortat in Tulkarem vorbereitet wurde. Die Armee bestraft nicht nur die Täter oder die Hintermänner von Anschlägen. Auch die Häuser ihrer Familien werden zerstört, manchmal sogar die Infrastruktur ganzer Nachbarschaften.
Die derzeitige Bestrafungsaktion ruft Erinnerungen an die zweite Intifada von 2002 wach. Auch damals wurden Flüchtlingslager belagert, um den bewaffneten Widerstand zu stoppen. Doch aus einer für Wochen geplanten Kampagne wurden Jahre. Bis 2005 wurden mindestens 4412 Palästinenser getötet und 48 000 verletzt. 1069 Israeli kamen bei der Anschlagswelle der Hamas und des Islamischen Jihad ums Leben.
Hamas ruft zu Selbstmordattentaten auf
Am Dienstag rief Khaled Mashal, ein hochrangiger Hamas-Funktionär, auf einer Konferenz in Istanbul zu einer erneuten Welle von Selbstmordattentaten gegen die israelische Armee im Westjordanland auf. Israels Aussenminister Israel Katz seinerseits forderte die Armee auf, an den Brennpunkten des Westjordanlandes ähnlich vorzugehen wie im Gazastreifen.
In der Nähe von Bethlehem und Hebron wurden bereits Dutzende palästinensische Familien aus ihren Häusern vertrieben. Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem jagten Siedler im Jordantal die Bewohner von 28 Dörfern aus ihren Häusern, die Angreifer wurden angeblich von der Armee geschützt. In Israel wie auch in den palästinensischen Gebieten steigt die Furcht vor einer nicht zu stoppenden Gewaltspirale.








