Am Sonntag hätte sich Israel aus dem Nachbarland zurückziehen müssen. Doch die israelischen Soldaten bleiben in Libanon – weil die libanesische Armee angeblich ihre Verpflichtungen noch nicht erfüllt hat. Bricht nun der Krieg wieder aus?
Eigentlich hätten sich die israelischen Streitkräfte (IDF) bis zum Sonntag um 4 Uhr morgens aus Südlibanon zurückziehen müssen – so sieht es zumindest das Waffenstillstandsabkommen vor, das am 27. November 2024 nach monatelangen Kämpfen den verheerenden Krieg zwischen Israel und der libanesischen Schiitenmiliz Hizbullah beendet hatte. Doch die damals gesetzte Frist von sechzig Tagen verstrich am frühen Sonntagmorgen, ohne dass die IDF ihren Rückzug abgeschlossen hatten. Als Ortsansässige versuchten, in ihre Häuser zurückzukehren, gab es wieder Gefechte. Mindestens drei Personen starben dabei, Dutzende wurden verletzt, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete.
Schon am Freitag hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu angekündigt, dass die Armee den Abzug verzögern werde. Libanon habe seine im Waffenstillstandsabkommen festgehaltenen Verpflichtungen noch nicht vollständig erfüllt, sagte er. Trotzdem werde der Rückzug schrittweise fortgesetzt. Rückendeckung erhielt Netanyahu von der Regierung des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Ein Sprecher des Weissen Hauses forderte am Freitag eine «kurze, temporäre Verlängerung» der Frist.
Aus Beirut hingegen kam am Wochenende Protest. Libanons Präsident Joseph Aoun, der erst seit wenigen Wochen im Amt ist, forderte am Samstag seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron auf, Druck auf Israel auszuüben, damit es die Bedingungen des Abkommens einhalte. Gleichentags drohte ein anonymer Hizbullah-Vertreter gegenüber einer libanesischen Zeitung mit schweren Konsequenzen, sollte Israel sich nicht zurückziehen.
Mit einem Mal herrscht wieder Unsicherheit in Libanon – droht nun ein Wiederaufflammen der Kämpfe, die auf beiden Seiten der Grenze Zehntausende Menschen vertrieben haben?
Die libanesische Armee ist überfordert
Laut dem vor zwei Monaten vereinbarten Abkommen soll sich nicht nur Israel, sondern auch der Hizbullah aus Südlibanon zurückziehen. Derweil soll Libanons Armee die Kontrolle in dem Gebiet übernehmen und die Entwaffnung der islamistischen Miliz umsetzen, unter Aufsicht einer internationalen Kommission mit Vertretern aus den USA und Frankreich. Während die IDF zwar in den vergangenen Wochen aus den Gebieten entlang der Küste abgezogen sind, sind sie weiter östlich nach wie vor präsent, patrouillieren durch Dörfer, verjagen Rückkehrer mit Warnschüssen und sprengen Häuser. Man gehe dabei gegen Tunnelanlagen und Waffenlager des Hizbullah vor, heisst es aus Israel.
Die Libanesen hingegen haben Israel beschuldigt, mutwillig die Infrastruktur in den südlibanesischen Dörfern zu zerstören und das Waffenstillstandsabkommen regelmässig zu verletzen. Tatsächlich griffen die Israeli auch nach dem Ende der Kämpfe Ende November immer wieder angebliche Hizbullah-Ziele an.
Gleichzeitig scheint der libanesische Staat trotz gutem Willen in seinen Möglichkeiten begrenzt, im Süden die Kontrolle zu übernehmen. So verlegte die Armee zwar Tausende Soldaten in das Gebiet. Seit dem Fall des Asad-Regimes in Syrien ist die motivierte, aber schwache und unterfinanzierte Truppe aber überfordert. Zusätzlich zur Überwachung des Hizbullah-Abzugs muss sie nun auch noch die Grenze zu Syrien sichern. Die Israeli beklagen deshalb, dass der Vormarsch der libanesischen Armee nur schleppend vorankomme. Diese wiederum warf den IDF am Samstag «Prokrastination» vor.
In Libanon kommt Zuversicht auf
Inwiefern sich die immer noch schwer bewaffnete, mit Iran verbündete Schiitenmiliz tatsächlich aus dem Gebiet zurückzieht, lässt sich kaum überprüfen. Israel hat dem Hizbullah in den vergangenen Wochen immer wieder vorgeworfen, gegen das Abkommen zu verstossen und etwa Raketen zu transportieren. Gleichzeitig wissen auch die Islamisten, dass ein neuer Krieg verheerende Folgen hätte – und dass die Stimmung in Libanon endgültig gegen sie kippen könnte.
In den Wochen seit dem Waffenstillstand hatte sich in dem multikonfessionellen, von Krisen und Kriegen schwer geschundenen Levante-Staat zum ersten Mal seit langem so etwas wie Zuversicht breitgemacht. So ist es den Libanesen nach Jahren der politischen Blockade gelungen, mit dem ehemaligen Armeechef Joseph Aoun einen neuen Präsidenten zu wählen. Wenig später bestimmten sie mit Nawaf Salam auch gleich noch einen Regierungschef, der endlich bitter nötige Reformen angehen soll.
Seither wirkt Beirut wie eine Stadt auf Speed. Die Bars sind voll wie zu besten Zeiten, auf den Valet-Parkings stauen sich die Autos, und lokale Unternehmer erzählen, dass sich ihre Auftragsbücher wieder füllten. Klar ist: Ein neuer Krieg würde die Euphorie und die Zukunftshoffnungen der Libanesen jäh zerstören. Schon zuvor war die Mehrheit der Bevölkerung dem Grenzkrieg ablehnend gegenübergestanden, den der Hizbullah im Oktober 2023 aus Solidarität mit der Hamas vom Zaun gebrochen hatte. Als die Scharmützel im Herbst 2024 in einen offenen Waffengang ausuferten, war die Wut auf die Miliz gross, auch wenn man sich mit den ausgebombten Schiiten im Süden solidarisch zeigte.
«Wir wollen Frieden. Es reicht»
Inzwischen ist die Moral selbst in den Stammgebieten der Truppe am Boden. In der Hafenstadt Tyros im Süden wehen zwar überall leuchtend gelbe Hizbullah-Fahnen. Viele der von Israel bombardierten Häuser liegen aber immer noch in Trümmern. «Ich habe mein Haus selbst wieder aufgebaut», sagt ein wütender Mann im Stadtzentrum. Hilfe habe er weder vom Staat noch vom Hizbullah bekommen. Die Bewohner von Tyros wissen, dass die sehnlichst erwarteten internationalen Hilfsgelder erst dann fliessen, wenn Ruhe herrscht. «Wir haben die Nase voll von den Kriegen», sagt der Besitzer eines Handy-Shops. «Wir wollen Frieden und wirtschaftliche Entwicklung. Es reicht.»
Nun fragt sich das ganze Land, wie der Hizbullah auf den verzögerten Abzug Israels reagieren wird. Die Schiitenmiliz hat im Krieg gegen Israel eine katastrophale Niederlage einstecken müssen. Sie verlor nicht nur Tausende Kämpfer und ihre gesamte Führungsriege – sondern mit dem Sturz des verbündeten Asad-Regimes auch noch ihre Nachschublinien in Syrien. So ist mehr als fraglich, ob die schwer angezählte Organisation tatsächlich einen weiteren Krieg riskieren kann.
Und auch die Israeli dürften an einem erneuten Aufflammen der Kämpfe kein wirkliches Interesse haben. Nach wie vor warten Tausende Israeli darauf, in ihre Häuser im Norden des Landes zurückzukehren. Anfang März solle es endlich so weit sein, hat die israelische Regierung jüngst mitgeteilt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die fragile Ruhe anhält – und der Hizbullah zähneknirschend hinnimmt, dass sich die Israeli mit ihrem Rückzug noch rund einen Monat länger Zeit lassen.