Während das Kriegskabinett für Zurückhaltung plädiert, fordern rechtsextreme Politiker den sofortigen Angriff. Was ist das wahrscheinlichste Szenario?
Bereits dreimal ist das Kriegskabinett in Tel Aviv nun schon zusammengekommen, nachdem Iran in der Nacht von Samstag auf Sonntag den jüdischen Staat mit über 300 Drohnen und Raketen angegriffen hatte. Dennoch erfolgte über 24 Stunden nach der beispiellosen Attacke immer noch kein Vergeltungsschlag gegen das Mullah-Regime. Dass dieser noch kommen wird, scheint allerdings ausgemacht. Am Sonntag hatte ein israelischer Armeesprecher mitgeteilt: «Wir werden mit Taten antworten, nicht mit Worten.» Wie diese Taten aussehen werden, davon hängen Frieden oder Krieg im Nahen Osten ab.
Das israelische Militär demonstriert Entschlossenheit. Natürlich seien die israelischen Streitkräfte bereit, Iran anzugreifen, wenn es nötig sei, sagte ein hochrangiger israelischer Luftwaffenoffizier am Montag. «Wir haben die Möglichkeiten, auch weit entfernte Ziele zu erreichen. Das haben wir bereits bewiesen», sagte der Militärangehörige, ohne Iran explizit zu erwähnen. «Das ist eine der Optionen, die wir der Regierung vorgelegt haben. Nun muss das Kriegskabinett über das weitere Vorgehen entscheiden.»
Das israelische Kriegskabinett trifft alle zentralen Entscheidungen zur Kriegsführung. Drei Personen haben die Entscheidungsmacht: Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, Verteidigungsminister Yoav Gallant und der Oppositionspolitiker Benny Gantz, der Netanyahu prompt nach Kriegsausbruch die Bildung einer Einheitsregierung anbot. Laut Medienberichten befürworten die drei Männer zwar eine Antwort auf den iranischen Angriff. Doch über das Ausmass sowie den Zeitpunkt eines Gegenschlags sind sie sich uneins. Währenddessen nimmt der innenpolitische Druck auf sie zu.
Israels Rechtsextreme fordern einen Angriff auf Iran
In der israelischen Politik wird heftig darüber gestritten, wie eine adäquate Antwort auf Irans Aggression aussehen soll. Rechtsextreme Mitglieder der Regierung von Ministerpräsident Netanyahu riefen schnell nach einem Gegenschlag auf iranisches Territorium. «Sollten wir zögern, Gott verbiete es, werden wir uns und unsere Kinder existenzieller Gefahr aussetzen», sagte Finanzminister Bezalel Smotrich am Sonntag. Es sei an der Zeit, die israelische Abschreckung wiederherzustellen. Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, verlangte einen vernichtenden Gegenschlag: «Die Konzepte von Zurückhaltung und Verhältnismässigkeit gelten seit dem 7. Oktober nicht mehr.»
Diese Aussagen seien vor allem als Wahlkampfmanöver zu verstehen, meint Nimrod Goren, Leiter der israelischen Denkfabrik Mitvim. «Die meisten Israeli finden diese Aussagen unverantwortlich, da sie grossen Schaden anrichten könnten.» Zudem seien sie zu vernachlässigen, da Ben-Gvir und Smotrich auf Kriegsentscheidungen nur sehr wenig Einfluss hätten. Doch auch Mitglieder des Likud, der Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, äusserten sich ähnlich wie die beiden Politiker. «Wir haben gesagt, dass wir in Iran selbst antworten werden, sobald Iran Israel angreift. Das gilt immer noch», sagte Aussenminister Israel Katz im israelischen Fernsehen.
Netanyahu schweigt
Aus dem Kriegskabinett kamen derweil andere Töne. Sowohl Benny Gantz wie auch Verteidigungsminister Yoav Gallant sprachen sich dafür aus, dass Israel den abgewehrten Angriff nutze, um eine regionale Koalition gegen Iran zu schmieden. Israel werde auf den iranischen Angriff antworten, «in einer Weise und zu einer Zeit, die uns gelegen kommt», sagte Gantz am Sonntag. Nur Benjamin Netanyahu selbst hat sich bisher noch nicht zu einem möglichen Gegenschlag geäussert.
«Netanyahu hat bisher geschwiegen, weil er sich von den Aussagen der anderen Kriegskabinettsmitglieder distanzieren will», sagt Goren. Diese widersprächen Netanyahus Darstellung, dass Israel sofort auf einen Angriff reagieren müsse. Hinzu kommt der innenpolitische Druck: Netanyahu will seine Koalitionspartner Ben-Gvir und Smotrich bei der Stange halten und spricht sich daher nicht öffentlich dafür aus, Vorsicht walten zu lassen.
Was ist das wahrscheinlichste Szenario?
Der israelische Ministerpräsident gilt als ein die Risiken sorgsam abwägender Politiker. Er wird kaum ohne amerikanische Unterstützung Ziele in Iran angreifen. Präsident Joe Biden hatte bereits signalisiert, dass Washington Israel dabei nicht unterstützen werde, da er einen regionalen Flächenbrand befürchte.
Ein weiterer Grund, der für Zurückhaltung spricht, ist das Verhalten der arabischen Nachbarstaaten, die Israel bei der Abwehr gegen Iran behilflich waren. «Dass arabische Staaten de facto Israels Sicherheit gewährleistet haben, während es Krieg gegen die Palästinenser führt, ist bemerkenswert», sagt der israelische Analytiker Goren. «Ich glaube aber nicht, dass die arabischen Staaten eine israelische Antwort auf den Angriff unterstützen würden – das ist auch etwas, das Israel berücksichtigt.»
Laut israelischen Medien soll das Kriegskabinett am Montag verschiedene Optionen diskutiert haben, die für Iran schmerzhaft seien, aber keinen regionalen Krieg provozierten. Ein direkter Angriff auf Iran, etwa das iranische Atomprogramm, wäre damit so gut wie ausgeschlossen. Denn dafür brauchte Israel nicht nur ein amerikanisches Einverständnis, sondern auch die operative Unterstützung der USA, da sich die Anlagen tief unter der Erde befinden.
Um die USA und auch die arabischen Nachbarn nicht zu verärgern, ist es daher wahrscheinlich, dass Israel auf altbekannte Taktiken zurückgreift – etwa iranische Stellvertreter in Libanon oder im Irak anzugreifen. Eine Cyberattacke auf Iran wäre eine weitere Möglichkeit.
Doch schon lange nicht mehr lagen die Nerven im Nahen Osten so blank wie jetzt. Am Montag kündigte der iranische Aussenminister an, sein Land werde rasch auf eine israelische Vergeltung antworten. Selbst wenn Israel das iranische Territorium nicht direkt angreift, könnte es zu Fehleinschätzungen in Jerusalem oder Teheran kommen. Die Gefahr eines regionalen Krieges ist immer noch real – nicht zuletzt wegen der israelischen Innenpolitik.