Bisher waren die sogenannten Haredim vom israelischen Militärdienst ausgenommen, damit sie sich voll und ganz dem Thora-Studium widmen können. Damit soll jetzt Schluss sein. Zu Besuch in einer Parallelwelt.
Ein monotones Summen erfüllt die Halle der Ponevezh-Jeschiwa in der israelischen Stadt Bnei Brak. An den Wänden bröckelt der Putz herunter, Halogenleuchten tauchen den Raum in ein weisses Licht. Rund 300 junge Männer in dunklen Anzügen bewegen ihre Oberkörper in schnellem Rhythmus vor und zurück. Ihre Augen sind auf die in rotem Leder eingebundenen Ausgaben der Thora vor ihnen gerichtet. Obwohl dieser Ort nur dreissig Minuten von der modernen Mittelmeermetropole Tel Aviv entfernt liegt, befindet er sich in einer anderen Welt. Einer Welt, die gerade in ihren Grundfesten erschüttert wird.
Die betenden Männer sind ultraorthodoxe Juden, sogenannte Haredim. In Israel machen sie rund 13 Prozent der Bevölkerung aus. Sie sind vom Militärdienst ausgenommen, sofern sie sich in einer Jeschiwa – einer religiösen Schule – voll und ganz dem Thora-Studium widmen. Doch damit soll bald Schluss sein.
In einem wegweisenden Urteil hat das Oberste Gericht Israels Ende Juni entschieden, dass die bisherige Ausnahmepraxis illegal sei. Schon am 21. Juli verschickte die Armee die ersten 1000 Einberufungsbefehle an Ultraorthodoxe. Der Gaza-Krieg hat den Bedarf an Soldaten in Israel erhöht – auch deshalb rüttelt der jüdische Staat nun am Sonderstatus der strenggläubigen Juden.
Bnei Brak ist eine Hochburg der Haredim. Die Mehrheit der knapp 200 000 Einwohner sind Ultraorthodoxe. Die Stadt gehört zu den ärmsten und am dichtesten besiedelten Orten in Israel. Ein Besuch in der Stadt zeigt: Hier geben sich die meisten unbeeindruckt angesichts des drohenden Endes ihrer Privilegien.
«Das Hamas-Massaker ist wegen unserer Sünden geschehen»
Moshe steht in der Mittagspause vor dem Eingang der Ponevezh-Jeschiwa. Es sei die grösste Thora-Schule Israels, erklärt er stolz. «Wenn ich einen Einberufungsbefehl erhalte, dann werde ich ihn zerreissen», sagt der 21-Jährige ohne zu zögern. Der junge Schüler gibt bereitwillig Auskunft, nur seinen Nachnamen will er nicht veröffentlicht sehen. Denn Moshe ist im wehrfähigen Alter. Auch er könnte in Zukunft den Befehl erhalten, sich bei einem Rekrutierungsbüro zu melden.
So wie Moshe denken die meisten jungen Ultraorthodoxen in Bnei Brak über den Militärdienst. Auch die ultraorthodoxen Rabbiner haben entsprechende Parolen ausgegeben. An einem Stromkasten hinter Moshe ist die Empfehlung eines einflussreichen Rabbis auf einem grossen Plakat abgedruckt. Falls Jeschiwa-Studenten einen Einberufungsbefehl erhielten, sollten sie diesen ignorieren, steht dort auf Hebräisch geschrieben.
Wie viele seiner Kollegen hat Moshe Angst, beim Militär seinen Glauben zu verlieren. «Es ist unmöglich, in der Armee ein religiöses Leben zu führen», sagt er. Der junge Mann mit den kurzen schwarzen Haaren bestreitet zudem, dass es Israel nützen würde, wenn er statt zur Jeschiwa zum Militär ginge.
«Je mehr wir die Thora studieren, desto sicherer ist Israel», sagt Moshe. Er gibt sich selbstkritisch: «Der 7. Oktober ist auch deshalb passiert, weil wir nicht alles getan haben, was wir hätten tun können. Weil wir nicht genug gebetet haben.»
Schuld trügen allerdings auch die Säkularen, die ihn und andere nun zum Militärdienst zwingen wollten. «Es ist offensichtlich, dass das Hamas-Massaker wegen unserer Sünden geschehen ist.» Viele Juden in Israel würden beispielsweise die Ruhe am Sabbat nicht einhalten. Es sei kein Wunder, wenn Gott sie dafür strafen würde.
«Niemand kann uns vom Thora-Studium abhalten»
Im Inneren der Jeschiwa führt eine weite Treppe in die erste Etage, wo sich Dutzende abgewetzte Bücher in schlichten Metallregalen stapeln. An den Garderoben haben die jungen Studenten ihre schwarzen Hüte und Jacketts aufgehängt, ihre Habseligkeiten haben die meisten in Plastiktüten mitgebracht. Im ersten Stock steht Yisrael Hilman. Der 17-Jährige sieht es so wie Moshe: «Was die Welt zusammenhält, ist das Studium der Thora», sagt der junge Mann mit dem schmalen Oberlippenbart. «Wir verteidigen das Land, indem wir die Thora studieren.»
Sein älterer Mitschüler Moshe erzählt, die Jeschiwa-Schüler beteten seit dem Kriegsausbruch noch intensiver für die Soldaten und die Rückkehr der Geiseln. «Niemand kann uns vom Thora-Studium abhalten», sagt er. Die Heilige Schrift zu vernachlässigen, kommt für ihn einer Sünde gleich. Und eins sei klar: «Es ist besser, zu sterben, als zu sündigen.»
Die Regierung wird nicht zerbrechen
Zehn Minuten von der Jeschiwa entfernt überragt ein modernes Hochhaus die eng gedrängten Häuser von Bnei Brak. Hier befindet sich die Redaktion von «Haderi Haredim», dem nach eigenen Angaben grössten ultraorthodoxen Nachrichtenportal der Welt. In den klimatisierten Räumlichkeiten riecht es nach kaltem Zigarettenrauch. Der Journalist Yanki Farber öffnet die Tür und bittet an einen Konferenztisch.
Farber steht unter Strom. Er redet schnell und laut, gestikuliert viel. Er weiss, dass die ultraorthodoxe Gemeinschaft, aus der er selbst stammt, an einem Wendepunkt angelangt ist. «Es ist vorbei: Das Oberste Gericht und jede neue Regierung werden alles tun, damit die Haredim ihre Privilegien verlieren», sagt er.
Auch in der rechts-religiösen Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu konnten die ultraorthodoxen Parteien nicht verhindern, dass die ersten 1000 Haredim zur Rekrutierung einberufen wurden. Bis Ende Jahr sollen weitere 2000 folgen. In zwei Jahren will die israelische Armee 10 000 Ultraorthodoxe integriert haben. Bereits drohen ultraorthodoxe Politiker deshalb mit dem Koalitionsbruch. «Trotzdem werden die Haredi-Parteien die Regierung nicht sprengen», ist sich Farber sicher. «Sie wissen, dass alles, was danach kommt, viel, viel schlimmer für sie wird.»
Die Angst der Rabbiner
Selbst wenn nur halb so viele Haredim zum Militär kämen, wäre das ein schwerer Schlag für die ultraorthodoxen Gemeinden, meint Yanki Farber. «Stell dir das einmal vor: 5000 junge Ultraorthodoxe, die in Uniform zur gleichen Synagoge gehen, in den gleichen Läden einkaufen und mit den anderen Haredim zusammenleben», sagt der Journalist. Dies hätte eine enorme Anziehungskraft, glaubt Farber. «Weitaus mehr junge Haredim würden zur Armee gehen wollen. Die Jeschiwot wären leer.»
Obwohl immer behauptet werde, dass die Haredim in der Armee ihren Glauben verlieren würden, sei der Grund für den Widerstand gegen den Militärdienst ein anderer, meint Yanki Farber. «Es ist kein Problem, in der Armee religiös zu bleiben.» Er spricht aus Erfahrung: Geboren in eine ultraorthodoxe Familie mit 14 Geschwistern, meldete er sich 1999 als einer der ersten Rekruten freiwillig zum Dienst in einem ultraorthodoxen Bataillon. Seine Freunde und die Familie seien schockiert gewesen. Die Menschen in Bnei Brak hatten noch nie einen orthodoxen Mann in Uniform gesehen.
Doch laut Farber ist der springende Punkt, dass die Armee die Weltsicht der Männer verändere. Die wenigsten würden ihre Kinder später noch auf eine Thora-Schule schicken. «Die ultraorthodoxen Rabbiner haben Angst, dass die Gemeinschaft der Haredim zersplittert, sich verstreut und sie keine Macht mehr über sie haben.»
Wenngleich die Ablehnung dominiert, sind sich längst nicht alle Rabbiner einig, wie sie auf die Einberufung ihrer Gemeindemitglieder reagieren werden. Es sind denn auch die Geistlichen, die letztgültig den Kurs der ultraorthodoxen Parteien bestimmen. Doch bald müssen sie eine Entscheidung fällen. Ihre Gemeinden, die seit Jahrzehnten durch viel Staatsgeld in Israel aufblühten, stehen unter enormem Druck.
Frauen-freie Zonen in der Armee?
Ein Rabbi, der eine Idee hat, ist Moshe Raavad. Der 65-Jährige war bis 2012 der oberste Geistliche der israelischen Luftwaffe. Damals musste der ultraorthodoxe Rabbi von seinem Posten zurücktreten, nachdem er kritisiert hatte, dass auch die orthodoxen Soldaten an Zeremonien teilnehmen müssen, bei denen Sängerinnen auftreten. Strenggläubigen Juden ist es verboten, eine Frau singen zu hören.
Heute hegt Raavad deswegen keinen Groll gegen die Armee. Er befindet sich immer noch im Reservedienst und hat die Armeeführung eng beraten, wie nun mehr Haredim integriert werden können. In seiner blitzsauberen Wohnung in Petah Tikva, wenige Kilometer von Bnei Brak entfernt, legt er dar, wie die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) aussehen müssten, wenn ihnen weitaus mehr Haredim beiträten.
«Die israelische Armee hat eine Menge Arbeit vor sich», sagt Raavad. «Die Kultur des Militärs muss sich grundlegend ändern.» Die Durchmischung der Geschlechter müsse zurückgeschraubt werden, und die Kantinen müssten sogenanntes glatt-koscheres Essen anbieten, das noch strenger geprüft werde als «normale» koschere Nahrung. Ausserdem solle die Sabbat-Ruhe strikter eingehalten werden.
Das Militär war in Israel schon immer ein Hort der Säkularen und wurde nicht für die Bedürfnisse der Ultraorthodoxen geschaffen. Wenn die Armee die Haredim haben wolle, werde sie sich ändern müssen, sagt Moshe Raavad. «Es müssten etwa Orte geschaffen werden, die nur Männer betreten dürfen», sagt er. Der Rabbi ist überzeugt: «Wenn die IDF diese Änderungen vornehmen, werden die Haredim kommen.»
Der demografische Trend ist klar
Dass die Haredim schon bald in grösserer Zahl Militärdienst leisten werden müssen, scheint allerdings ausser Frage zu stehen. Ultraorthodoxe Frauen in Israel bringen im Durchschnitt 6,6 Kinder zur Welt – säkulare Jüdinnen hingegen nur 2,5. Setzt sich dieser Trend fort, wären bis 2065 knapp ein Drittel aller jüdischen Israeli ultraorthodox.
Für die meisten Israeli ist daher klar, dass der Sonderstatus der Haredim nur schon aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht mehr lange aufrechtzuerhalten ist. Die ersten 1000 Einberufungsbefehle sind nur der Beginn einer grundlegenden Umwälzung der gesamten israelischen Gesellschaft. Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind noch nicht absehbar.
Zwei Szenarien sind denkbar: Entweder dient eine grössere Zahl Ultraorthodoxer im Militär und säkularisiert sich damit schrittweise. Oder die israelische «Volksarmee» und damit auch die gesamte Gesellschaft orientieren sich stärker an streng religiösen Grundsätzen, inklusive zunehmender Geschlechtertrennung in öffentlichen Einrichtungen. Die Demografie und die politischen Machtverhältnisse sprechen eher für das zweite Szenario.
Mitarbeit: Eliyahu Freedman.







