Alkohol erhöht das Krebsrisiko bereits in kleinen Mengen. Die Medizin weiss das schon lange. Doch in der Bevölkerung sei das Bewusstsein für diese Gefahr noch «alarmierend gering», heisst es in einem aktuellen Bericht der WHO.
Beim Trinken sind Europäer weltweit Spitzenklasse: 2019 konsumierten sie durchschnittlich 9,2 Liter reinen Alkohol pro Kopf, fast doppelt so viel wie der globale Mittelwert. Die Deutschen gehören mit gut 12 Litern zu den Spitzenreitern, Schweizer trinken mit 8,7 Litern etwas moderater. Immerhin gehen die Zahlen in der Schweiz und in vielen anderen Ländern langsam, aber stetig zurück.
Die gesundheitlichen Folgen sind gemäss einem eben erschienenen Bericht des Regionalbüros für Europa der Weltgesundheitsorganisation frappant: Alkohol sei in den 53 Staaten der europäischen WHO-Region für rund 800 000 Todesfälle pro Jahr verantwortlich, das sind mehr als 2000 pro Tag.
Der Grossteil davon seien tödlich verlaufende Krebserkrankungen, die durch Alkoholkonsum ausgelöst würden, heisst es in dem Bericht. Die Krebsliga Schweiz schätzt, dass 4 bis 8 Prozent aller Krebserkrankungen alkoholbedingt sind. Das entspräche 1600 bis 3200 der rund 40 000 Krebserkrankungen pro Jahr in der Schweiz.
Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Alkohol neben anderen Gefahren für die Gesundheit auch das Krebsrisiko deutlich erhöht, ist alt: Seit 1988 führt die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) «Ethanol in alkoholischen Getränken» in seiner Liste der eindeutig krebserregenden Substanzen. Alkohol erhöht vor allem das Risiko für Darm-, Brust- und Leberkrebs sowie für Tumore im Bereich von Mund und Speiseröhre. Grössere Mengen schaden zwar mehr, doch die oft gehörte Meinung, dass ein Gläschen hier und da völlig harmlos sei, lässt sich medizinisch nicht halten.
Viele Menschen wissen nichts von der Krebsgefahr durch Alkohol
In der öffentlichen Wahrnehmung sprechen sich diese Zusammenhänge jedoch nur langsam herum: In Umfragen in zahlreichen europäischen Ländern wussten zumeist weniger als die Hälfte der Befragten überhaupt über den Zusammenhang von Alkohol und Krebs Bescheid, so der Bericht.
Die WHO-Experten machen nun einen Vorschlag, wie sich dies ihrer Meinung nach am besten ändern liesse: Klare und auffällige Warnhinweise auf alkoholischen Getränken, die auch explizit auf die Krebsgefahr eingehen. Sie könnten Menschen dabei helfen, informierte Entscheidungen über ihren Alkoholkonsum zu treffen, sagt Hans Henri Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. «Die Bereitstellung dieser Informationen nimmt den Verbrauchern nichts weg. Im Gegenteil, sie rüstet sie mit Wissen aus. Und Wissen ist Macht.»
Konkret empfiehlt die WHO den europäischen Ländern klare Regeln für verpflichtende Warnhinweise, anstatt deren Umsetzung den Herstellern zu überlassen. Diese zögen sich gern mit QR-Codes aus der Affäre, die zu weiteren Informationen führten. Sie würden von den Konsumenten in der Praxis aber so gut wie nicht genutzt. Der Bericht schlägt schriftliche Hinweise und Piktogramme vor. Von schockierenden Bildern kranker Menschen oder Organen, wie sie auf Zigarettenschachteln zu finden sind, ist nicht die Rede.
Was bringen Warnhinweise wirklich?
Die entscheidende Frage, ob solche Warnhinweise auch wirklich den gewünschten Effekt haben, ist wissenschaftlich kaum mit letzter Sicherheit zu beantworten. Denn wie Probanden in künstlichen Laborversuchen auf solche Massnahmen zur Verhaltensänderung reagieren, sagt wenig über das wahre Leben aus. Gleichzeitig können «Real Life»-Studien, die etwa die Situation vor und nach der Einführung gesetzlicher Regeln untersuchen, meist andere Einflussfaktoren nicht ausschliessen.
Unterm Strich sprechen Studien aber für positive Effekte von Warnhinweisen auf alkoholischen Getränken. Zu diesem Schluss kommt unter anderen eine 2024 erschienene systematische Übersichtsarbeit im Fachblatt «The Lancet Public Health», die vierzig Studien zum Thema aus den letzten 25 Jahren auswertet. Sie findet mehr oder minder deutliche Evidenz dafür, dass solche Hinweise die konsumierte Alkoholmenge reduzieren, Kunden im Laden eher zu alkoholfreien Alternativen greifen lassen oder Autofahrer und Schwangere vom Alkoholkonsum abhalten können.
Allerdings stellt auch der WHO-Bericht klar, dass Warnhinweise eher eine ergänzende Massnahme zur besseren Aufklärung seien. Stärkere Hebel, um den Alkoholkonsum zu reduzieren, seien der Preis und die Verfügbarkeit von Alkohol.
Sind die Warnungen Aufklärung oder Bevormundung?
Politisch bleiben verpflichtende Warnhinweise umstritten. In der EU wurden Vorstösse für verbindliche Regelungen bereits mehrfach abgelehnt. Und auch in der Schweiz sehen manche Politiker darin ein weiteres Beispiel staatlicher Überbehütung.
Doch zuletzt hat sich der Wind weltweit gedreht. In sozialen Netzwerken trendet eine neue Nüchternheit, alkoholfreie Longdrinks haben Konjunktur, und selbst Augustiner Bräu, Münchens älteste Brauerei, brachte vergangenes Jahr endlich ein alkoholfreies Bier heraus.
In den USA meldete sich Anfang Januar Vivek Murthy zu Wort, der als Surgeon General den öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes leitet. Er forderte, die dort bereits 1988 eingeführten Warnhinweise um Aussagen zur Krebsgefahr zu ergänzen. Und als erstes europäisches Land hat Irland kürzlich eine gesetzliche Regelung für Alkohol-Warnhinweise auf den Weg gebracht. Sie gilt ab Mai 2026.