Mit seinen markanten architektonischen Wahrzeichen präsentiert sich Riad als kosmopolitische Metropole. Doch was bewegt die Menschen in den Wohnquartieren? Dies lässt sich neuerdings als Tourist bei einem privaten Abendessen in einem saudiarabischen Haushalt erkunden.
Keine 25 Sekunden dauert der Weg aus Riads historischer Vergangenheit direkt ins 21. Jahrhundert. Gerade noch war man in den engen Gassen voller Lehmpaläste und orientalischer Suks unterwegs gewesen, schon hat einen der Expresslift zur Aussichtsplattform des Al Faisaliyah Tower in 267 Meter Höhe katapultiert. Staunend blickt man auf eine bis zum Horizont in Quadrate gerasterte Planstadt. Ausrufezeichen-Architektur allenthalben, was da in Saudiarabiens Metropole an Wolkenkratzern in den Himmel wächst.
Auf einer der Freiluft-Dachterrassen steht man direkt unterhalb einer riesigen Glaskugel, für die der futuristische, vom Stararchitekten Norman Foster entworfene Al Faisaliyah Tower berühmt ist. Aus ihrem Inneren geht der Blick durch facettierte Scheiben auf Saudiarabiens Hauptstadt wie durch einen geschliffenen Diamanten, der eines der spektakulärsten Lokale der Stadt beherbergt: das dreistöckige Restaurant The Globe mit tiefroten Teppichböden, über die schon etliche Staatsgäste und Prominente geschritten sind.
Die Glaskugel des Al Faisaliyah Tower beherbergt «The Globe», ein exklusives Restaurant mit 360-Grad-Blick über Riad und international ausgerichteter Gourmetküche.
Mehr als 500 Saudi öffnen ihre Türen für ausländische Gäste
Doch nicht hierher zu international bekannter Küche zieht es einen zum Abendessen, sondern zu Frau Hind und ihrer Familie. Sie ermöglicht es Besuchern, bei saudischen Spezialitäten auch einen kulturellen Einblick zu erlangen. Ganz privat bei sich zu Hause. Das ist neu und ungewöhnlich für Saudiarabien, wo man als Fremder bislang kaum privaten Zugang zu Familien bekam. Doch in dem einst international weitgehend abgeschotteten Land hat sich viel verändert, seit der 39-jährige Mohammed bin Salman, von seinem Volk gern MbS genannt, von seinem kranken, greisen Vater 2017 zum Kronprinzen ernannt wurde und nun als De-facto-Herrscher gilt.
Seither herrscht Aufbruchsstimmung, denn es werden Dinge möglich, die aus religiösen Gründen noch vor wenigen Jahren verboten waren: ins Kino oder zu Open-Air-Konzerten gehen, Frauen ohne Schleier, die nun Auto fahren und alleine verreisen dürfen. Seit Ende 2019 erhält man nun auch zum ersten Mal problemlos Touristenvisa, plant MbS mit seinem Masterplan «Vision 2030» doch gigantische Investitionen auch im Tourismusbereich, um sein Land langfristig unabhängig von Erdölexporten zu machen.
Da ist man neugierig geworden, wie Einheimische den raschen Wandel empfinden und wie sie mit ihren neuen Freiheiten umgehen, wozu auch private Essenseinladungen für fremde Besucher aus dem Ausland gehören. Wer also jenseits des klassischen Sightseeings erkunden will, was wirklich echt ist im Land und was nur Fassade, muss vor allem dessen Menschen treffen. Menschen wie Frau Hind und ihre Familie.
Zur Begrüssung reicht die Gastgeberin Kaffee und Datteln
Abgeschottet und nicht einsehbar verbergen sich hinter hohen Mauern der ruhigen Wohnviertel die Privathäuser der Einheimischen. Wie es wohl sein mag, wenn die Gastgeber ihre Besucher hier bei sich zu Hause begrüssen? Zumindest in der Grossstadt hatten ausländische Touristen bislang selten das Glück, dass sich ihnen solche Türen öffnen. Bis die saudische Geschäftsfrau Nura al-Sadun ein Modell adaptierte, das sie auf ihren vielen Auslandsreisen kennengelernt hat, um es nun im touristisch aufstrebenden Saudiarabien zu etablieren: Essen bei Einheimischen. Mehr als 500 Saudi haben sich bislang auf Nuras Veranstalter-Website «HiHome» registriert und bewirten nun gegen Bezahlung Gäste, die auf diese Weise auch mehr über die Kultur und Gesellschaft des Landes erfahren können.
Wie von Geisterhand öffnet sich am Abend das automatisch gesteuerte Tor zum Innenhof einer Villa im Aussenbezirk von Riad, wo einen die Hausherrin Hind an der Eingangstür mit duftenden Rauchschwaden aus dem Weihrauchbrenner begrüsst. «Salam aleikum – Friede mit dir.» Drinnen wird man von ihren Kindern Nada und Saad und ihrem Neffen Mohamed in den Empfangsraum, das sogenannte Majlis, begleitet. Ausgestattet mit handgefertigten Beduinenteppichen, bequemen Sofas und flachen Salontischen, ist die Räumlichkeit eine Mischung zwischen elegant und doch traditionell. Zur Begrüssung und Vorstellung der Runde gibt es arabischen Kaffee und Datteln von der eigenen Farm.
«Vermeiden Sie politische und kontroverse Themen»
Weil die Familie nur ein paar Worte Englisch und man selbst kein Arabisch spricht, begleitet ausnahmsweise ein Dolmetscher der staatlichen Tourismusbehörde das Geschehen. Was neuerdings erlaubt ist im Land und was nicht, darüber sind sich manche Saudi oft gerade selber noch unsicher.
Frau Hind und ihre Familie baten daher, ihre vollständigen Klarnamen in der Geschichte nicht zu verwenden. Dabei liegt einem nichts ferner, als gastfreundliche Menschen, die einen zu Hause bei sich willkommen heissen, in Misskredit zu bringen. Doch publizierte Inhalte eines unter staatlichem Beisein stattfindenden Gespräches, da will keine Saudi-Familie in Ungnade fallen. Denn wer weiss schon, was so eine westliche Reporterin alles zum Gesprächsthema macht? Vielleicht gar die Ermordung des Journalisten und Regimekritikers Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul durch ein Sonderkommando aus Riad, die dem Land 2018 kurzzeitig internationale Ächtung einbrachte. «Vermeiden Sie politische und kontroverse Themen» lautet schon mal ein prophylaktischer Rat auf der Veranstalter-Website von «HiHome» an alle Gäste.
Die junge Nada postet indes noch schnell ihren Freunden übers Mobiltelefon, dass der Besuch jetzt eingetroffen sei. «Mama ist auch schon ein kleiner Internetstar, seit ich ihre Kochvideos ins Netz gestellt habe», sagt Nada. «Das Nationalgericht Chicken Kabsa (Reis mit Hühnchen, Fisch oder Fleisch) beherrscht in Saudiarabien ja jede. Aber ausgefallene Saucen aus Datteln oder Mango, da schauen viele zu», erzählt Frau Hind, die verwitwet ist und als pensionierte Lehrerin noch immer gerne andere an ihrem Wissen teilhaben lässt.
Mutter und Tochter tragen ein locker über den Kopf drapiertes Tuch, das ihre Haare nur mehr teilweise bedeckt. Inzwischen ist es Frauen auch ausser Haus erlaubt, sich komplett unverschleiert ohne sogenannten Nikab zu zeigen. Das Strassenbild prägen jedoch bislang weiterhin mehrheitlich Frauen in Gesichtsschleicher und Abaya, völlig unverschleiert sieht man in der Öffentlichkeit meist nur Expat-Frauen oder ausländische Feriengäste.
«In saudischen Familien bestimmen Väter und Ehemänner, wie sich eine Frau zu verhalten hat», sagt Frau Hind. Doch wer trifft wichtige Entscheidungen, wenn das Oberhaupt verstorben ist? Für Witwen mit Kindern sei es sehr schwer, wieder einen Ehemann zu finden, so viel hat Frau Hind immerhin über ihre besondere Situation gesagt. Beinah hätte man sich die Frage nach dem Witwendasein verkniffen, lauern doch die Fettnäpfchen überall, sobald es um allzu Privates geht. Da wird schnell jedes Wort zur Falle.
Der Besuch entpuppt sich als Eintauchen in eine Welt des ständigen Zwiespalts
Die Tochter Nada, die Grafikdesign und Social Media studiert, trägt ihre Abaya offen, so dass darunter ihr westlicher Kleidungsstil mit schwarzem T-Shirt und grauen Sneakers zu erkennen ist. Sie überrascht umso mehr mit einem subversiv wirkenden Unterlippen-Piercing. Ob das gemeinhin akzeptiert werde, fragt man Nada. «Mit meinem Körper kann ich doch machen, was ich will», kontert sie selbstsicher. «Mich hat sie jedenfalls nicht um Erlaubnis gefragt», unterbricht die Mutter und beklagt, dass die Jugend auch in Saudiarabien gerne nachmache, was ihnen internationale Stars und Sternchen in den sozialen Netzwerken alles als Trend vorgaukeln.
Ob sie keine Angst vor Repressalien habe, wenn sie ihre Piercing-Porträts öffentlich im Internet poste, will man von Nada wissen. Doch die zuckt nur mit den Schultern und ist sich sicher, dass dies ja nichts Verbotenes sei. Soweit mag das stimmen. Nur, wer solche Tweets nicht rein privat, sondern als Aktionsaufruf für mehr Frauenrechte einsetzt, kann wegen einer «terroristischen Straftat» auch im Gefängnis landen. Untergräbt ein ins Rampenlicht gerückter Aktivismus doch Autorität und Legitimität der Staatsmacht.
So sass manche Frauenrechtsaktivistin, die sich schon vor der Zeit der Reformen öffentlich dafür starkgemacht hatte, dass auch Frauen Auto fahren dürfen, selbst dann noch in Haft, als die Forderung längst nicht mehr strafbar, sondern bereits Realität war. So offenbart sich das Königreich westlichen Besuchern bisweilen als eine Welt des ständigen Zwiespalts. Einerseits herrscht ein streng autokratisches System. Andererseits sind den Menschen urplötzlich neue Freiheiten und die Chance auf eine bessere Zukunft zugefallen in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der 38 Millionen Einwohner jünger sind als 30 Jahre und viele im Auslandstudium hervorragend ausgebildet wurden.
Die Gastgeber wollen mehr über ihr eigenes Land erfahren
Im realen Leben kennt unsere Gastfamilie jedoch erstaunlich wenige Ecken des eigenen Landes, das 52-mal so gross ist wie die Schweiz. Bevor sie zu Tisch bitten, wollen Hind und ihre Kinder deshalb auch nichts Privates von einem wissen, sondern vielmehr, was man in Saudiarabien Überraschendes gesehen hat.
«Südseeflair», entgegnet man ihnen, das erwarte wohl kaum ein Besucher in Saudiarabien. Im bergigen Süden der Region Asir waren die sogenannten Blumenmänner auch jahrhundertelang eines der bestgehüteten Geheimnisse der arabischen Zivilisation. Zu gesellschaftlichen Anlässen tragen sie nicht die sonst bei saudiarabischen Männern typische Kopfbedeckung der Ghutra in Form eines weiss-rot karierten Tuches, sondern liebliche Tayeb-Kränze aus Blumen und Kräutern.
Die Farben der Blüten müssen dabei zur Kleidung passen, und die hinzugefügten Kräuter wie Basilikum oder Kadi sorgen obendrein dafür, dass man den ganzen Tag von Wohlgeruch umgeben ist. «Den Unterschied macht die kulturelle Nähe zu Jemen», sagt Saad. Denn die Region Asir ist erst nach dem Saudi-Jemenitischen Krieg 1934 fest zu Saudiarabien gekommen, nachdem es in den vorher undefinierten Südgrenzen mit Jemen überlappende Gebietsansprüche gegeben hatte.
Heute tragen Saudiarabien und Iran einen Stellvertreterkrieg auf jemenitischem Boden aus, und Saad ist sich sicher, dass die Menschen der Region Asir froh sind, unter dem sicheren Schutz der Saudi zu stehen.
Noch vor 25 Jahren lebten die Blumenmänner isoliert nach ihren eigenen Stammesrechten im südlichen Teil Saudiarabiens. Überraschenderweise ist deshalb nur ihnen heute noch der Anbau der aufputschenden Substanz Kat erlaubt. Und das in einem Land, das Drogenhandel normalerweise mit der Todesstrafe ahndet.
Open-Air-Konzerte, wo Todesurteile vollstreckt wurden
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International werden weltweit mit die meisten Todesstrafen in Saudiarabien vollstreckt, allein vergangenes Jahr waren es mindestens 345, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ist das jetzt feige, nicht geradeheraus zu fragen, was Hind und ihre Kinder über die Todesstrafe denken?
Soweit man an den Reaktionen der Familie bisher sehen konnte, hat der Dolmetscher wohl auch wirklich übersetzt, was man gefragt hat. Aber man will die Familie nicht in Schwierigkeiten bringen, dass sie vielleicht künftig Aufträge für ihre Essenseinladungen verliert oder noch weitaus Schlimmeres, weil ja offiziell nicht über Politik gesprochen werden soll.
Unweigerlich erinnert man sich jedoch an den Besuch des grössten Hauptplatzes von Riad, des Al-Safah-Platzes, auch Deera-Platz genannt. Umgeben von Behördengebäuden blieb der Platz meist gespenstisch leer. Nur an seinen Ecken wiesen vier Platzschilder seine eigentliche Funktion aus: «Midan al-Adl – Platz der Gerechtigkeit», hatte einem ein saudischer Passant die Inschrift übersetzt.
Wüsste man nicht, was sich hier noch vor wenigen Jahren ereignet hat, machte sich trotz allem Beklemmung breit. Denn es gibt Orte wie diesen, die Erinnerungen in sich tragen. Schliesslich wirkte es fast so, als habe der Platz all das Leid der hier öffentlich vollstreckten Hinrichtungen in sich gespeichert, auch wenn man das heute durch hier veranstaltete Open-Air-Konzerte alles vergessen machen will und Todesurteile nun weitgehend hinter Gefängnismauern vollstreckt werden.
Warum es nicht zur Liberalisierungsoffensive im Land gehöre, auch die Todesstrafe abzuschaffen, wollte man von dem Passanten wissen. «Bei uns ist allen Leuten klar, was sie bei Mord oder Drogendelikten erwartet. Es dient der Sicherheit im Land, wenn sie ihre gerechte Strafe bekommen», sagt der Mann ganz linientreu, obwohl weit und breit niemand zuhört.
Als könnte sie Gedanken lesen, noch bevor man überhaupt nur ein Wort über die Todesstrafe verloren hat und damit Gefahr läuft, geradlinig auf politisch kontroverse Themen zuzusteuern, bittet Hind nun zum Hauptgang. Im Nachbarraum steht bereits ein mit Tellern und Besteck gedeckter Tisch, etliche Platten sind schon mit Delikatessen gefüllt. Mit Samosas beispielsweise, knusprigen dreieckigen Teigtaschen mit herzhaften Füllungen, oder Mashkul-Reis mit Shrimps, Kabli-Reis mit Lamm und grünem Salat, verfeinert mit Granatapfel und Erdbeeren.
Auch für unsere Gastgeber ist der Tisch gedeckt. Aber ihre Plätze bleiben zu unserer Verwunderung leer. Sie speisen nicht mit uns, wovon man zunächst irritiert ist, bis Frau Hind erklärt: «Das ist nicht unhöflich gemeint. Wir haben schon gegessen und wollen nicht mit vollem Mund sprechen, während wir euch unsere kulinarischen Besonderheiten erklären.» Schliesslich gilt es in der islamischen Kultur als besondere Wertschätzung, Reisende privat zu bekochen. «Esst! Esst!», sagt Hind. Grundsätzlich soll der Teller des Gastes immer gefüllt sein. Deshalb gehört es zur guten Sitte, dass man seinen Teller nie leer isst.
Die Wüste als Schrebergarten und Rummelplatz der Saudi
Leben die meisten Saudi überwiegend in grossen Städten, unternehmen sie wie Hinds Familie an den kühleren Winterwochenenden gern Ausflüge in die nahe Wüste. Die Rub al-Khali, die sich hauptsächlich durch Saudiarabien erstreckt, ist mit 780 000 Quadratkilometern die grösste Sandwüste der Welt. Fast 19 Mal hätte die Fläche der Schweiz darin Platz. Anders als viele Touristen suchen Einheimische in den endlosen Dünenlandschaften aber weniger nach innerer Einkehr und Entschleunigung von zivilisatorischer Reizüberflutung, sondern nach dem kompletten Gegenteil: Unterhaltung und Amüsement.
Kaum ein Saudi, der kein eigenes Zelt oder nicht gar einen festen Stellplatz in einem der etwa 500 lokalen Wüstencamps rund um die Hauptstadt Riad besitzt. Wobei in der modernen Version des Beduinenlebens Satellitenfernsehen, eine Klimaanlage und ein gefüllter Kühlschrank selbst im einfachsten Zelt heute nicht fehlen dürfen. «Touristen sind romantische Träumer, wenn sie sich schweigend auf eine Düne setzen», sagt Saad, und sein Cousin Mohamed nickt zustimmend.
Das Verhältnis der Einheimischen zur Wüste sei da viel pragmatischer: «Wir wollen dort vor allem Spass und Unterhaltung mit Freunden haben», so Saad und Mohamed. Darauf stossen wir mit Saudi-Champagner an, der aufgrund des Alkoholverbots im Land aus Apfel- und etwas Zitronensaft, Eis, Minzblättern, klein geschnittenen Äpfeln sowie Orangen besteht und mit sprudeligem Mineralwasser aufgegossen wird.
«Seid ihr auch in al-Ula gewesen?», will die Familie wissen, denn zu den monumentalen, mehr als 130 äusserst kunstvoll in die Felsen gemeisselten Grabanlagen der Nabatäer reisen bislang die meisten ausländischen Besucher. Für Saudi höchst erstaunlich, denn diese Landschaft galt seit je als verflucht, und keiner traute sich wegen eines frommen Aberglaubens, herzukommen. Weil es angeblich den Zorn Allahs auf sich gezogen hatte, wendeten sich Muslime über Jahrhunderte ab vom antiken Hegra, der südlichen Hauptstadt der Nabatäer, die seinerzeit die Weihrauch- und Gewürzstrasse zwischen dem Mittelmeer und Südarabien kontrollierten und ihr Reich von Petra in Jordanien hierher ausdehnten.
Das nordarabische Beduinenvolk der Nabatäer glaubte schliesslich an viele unterschiedliche Gottheiten und wollte sich keinem einzigen Gott unterwerfen. Es belegte deshalb seine ins Felsenmassiv geschlagenen Gräber, deren Eingangsportale aussehen, als habe jemand das Muster eines Siegelstempels tief in weiches Wachs gedrückt, mit Flüchen gegen all jene, die sie zu plündern trachteten. Wer hätte damals gedacht, dass diese für Saudiarabien fremde Kultur nun in unserem Jahrhundert zur grössten archäologischen Touristenattraktion des Landes werden sollte? «Da müssen wir jetzt endlich auch hin, sonst haben unsere Besucher bald alle mehr gesehen vom Land als wir», sagt Saad.
Kaum ist die Nachspeise, eine saudische Variante von Crème Caramel mit Safran und Kardamom, leer gelöffelt, wird es Zeit, aufzubrechen. Selbst wenn einen die Gastfamilie mehrfach zum Bleiben auffordert, ist es Teil des Rituals, es nicht zu tun. Doch als einen die Gastfamilie für ein gemeinsames Abschiedsfoto zum Tragen eines traditionellen Festtagsumhangs, eines sogenannten Bisht mit Goldstickerei, auffordert, kommt man dann doch nicht umhin, ihnen auf Handyfotos zu zeigen, welche Traditionsgewänder sie bei einem Gegenbesuch in den alpinen Ländern Europas erwarten würden. Als Nada schallend anfängt zu lachen, will auch die Mama einen Blick auf die Bilder werfen: Frauen in dekolletierten, eng anliegenden Dirndlgewändern und nackte Männerwaden in Hirschlederhosen. Hind hält sich vor Schreck die Hände vors Gesicht. Saad und Mohamed sind sich einig: «Echt krass das Outfit.»
So lag die Kunst des Abends in ebenjenem Gespür, jenseits des rein kulturellen Austauschs zwischen den Zeilen immer zu erahnen, wann man ein Thema besser nicht in kompromittierende Abgründe treibt. Und sei es nur aus Rücksichtnahme, der Familie keinesfalls schaden zu wollen. Vielleicht haben einem Hind und ihre Familie auch deshalb bereitwillig einen kleinen Einblick ins Privatleben gegeben, wie es bislang im Land kaum denkbar erschien. Denn eines muss jedem klar sein: Wer sich kontrovers austauschen will, sollte immer wissen, wer mit am Tisch sitzt.
Infos Saudiarabien-Tourismus: visitsaudi.com/de.
Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von «HiHome».