Antisemitisch unterfütterte Slogans seien leichtfertig toleriert worden, kritisieren zwei Juristinnen: Allgemein werde die Opferperspektive grossgeschrieben – nicht aber bei Jüdinnen und Juden.
Regelmässig kommt es in der Schweiz zu antisemitischen Übergriffen oder zu Vorfällen, die antisemitisch unterfüttert sind. Erst letzte Woche sorgte die linke Basler Szenekneipe «Hirscheneck» mit einer Konzertabsage für Fassungslosigkeit. Das Lokal strich eine Veranstaltung eines Musikers aus dem Programm, weil dieser die Kampagne «Artists against Antisemitism» mit initiiert hatte. Es bestünden inhaltliche Differenzen, begründete das «Hirschi» seinen Entscheid auf Instagram.
Nicht immer stellen die Urheber von gegen Israel gerichteten Parolen selber eine derart direkte Linie zu einer antisemitischen Weltanschauung her. Oft ist sind die Hintergründe diffuser und weniger eindeutig. Als nach Kriegsbeginn infolge der Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 in der Schweiz israelkritische und propalästinensische Demonstrationen stattfanden, tauchten Parolen auf, die implizit als Angriff auf Israel sowie die Jüdinnen und Juden interpretiert werden können. Die bekannteste lautet: «From the river to the sea, Palestine will be free.»
Die PLO hatte die Formulierung in den 1960er Jahren in Umlauf gebracht. Umschrieben wird damit die territoriale Forderung nach einem palästinensischen Staat vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer. Das Gebiet umfasst das heutige Israel. Die Parole wird deshalb heute häufig als Aufruf zu dessen Auslöschung und zur Vertreibung der jüdischen Bevölkerung verstanden. Rasch kam es deshalb zu Strafanzeigen.
Anzeigen liefen ins Leere
Zur Diskussion standen mehrere Straftatbestände: die Antirassismus-Bestimmung nach Artikel 261bis des Strafgesetzbuches (StGB), die Diskriminierungen und Aufruf zu Hass unter Strafe stellt, sowie der Tatbestand der Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit nach Art. 259. Als dritte Möglichkeit wurde die Strafnorm betreffend Unterstützung einer terroristischen Organisation (Art. 260ter) geprüft.
Doch die Staatsanwaltschaften von Basel, Bern und Zürich kamen zu dem Schluss, dass die Parole nicht strafbar sei. In mehreren Fällen erliessen sie Nichtanhandnahmeverfügungen. Das heisst: Es wurden keine Untersuchungen eröffnet und keine Anklagen erhoben. Die Anzeigen liefen ins Leere.
Jetzt kassieren die Staatsanwaltschaften dafür harsche Kritik: Sie hätten sich einer verengten Betrachtungsweise bedient, «um zum Ergebnis zu gelangen, eine Strafbarkeit scheide unter allen Umständen aus». Zu diesem Schluss kommen die Juristinnen Mia Mengel und Vera Rottenberg in einer noch unveröffentlichten juristischen Auslegeordnung. Mit anderen Worten: Hätten es die Staatsanwaltschaften wirklich versucht, wäre eine Verurteilung wegen der Verbreitung der «From the river to the sea»-Parole keineswegs ausgeschlossen gewesen.
Die Wortmeldung hat durchaus Gewicht: Vor allem Rottenberg hat sich als langjährige Bundesrichterin (1994 bis 2012) über die Juristenbranche hinaus einen Namen gemacht. In Auftrag gegeben wurde die Stellungnahme von der Stiftung gegen Rassismus und Antirassismus (GRA), deren Stiftungsrat Rottenberg angehört.
«Im Zweifel für das Härtere»
Mengel und Rottenberg behaupten in ihrem Papier nicht, dass die Strafanzeigen wegen dieser und ähnlicher Parolen vor Gericht zwingend zu einer Verurteilung geführt hätten. Sie stellen bloss fest, dies wäre keineswegs ausgeschlossen gewesen. Und bei einer derart offenen Ausgangslage hätten die Staatsanwaltschaften die Verfahren niemals einstellen dürfen.
Die Autorinnen beziehen sich dabei auf eine eiserne Regel des Strafprozessrechtes: Im Zweifel muss angeklagt werden. Der für die Strafverfolger verbindliche Grundsatz «in dubio pro duriore» (im Zweifel für das Härtere) bildet das Gegenstück zum Prinzip «in dubio pro reo» (im Zweifel für den Angeklagten), das vor Gericht gilt. Er soll sicherstellen, dass solche Streitfragen von der Justiz und nicht von der Strafverfolgungsbehörde entschieden werden.
Doch weshalb kommen Rottenberg und Mengel zu dem Schluss, eine Verurteilung wäre möglich gewesen – während drei Staatsanwaltschaften genau dies kategorisch ausschlossen? Diese Frage führt tief in die Funktionsweise der drei Strafbestimmungen, allen voran der Antirassismusstrafnorm.
Art. 261bis StGB schützt die Menschenwürde sowie den öffentlichen Frieden und umfasst Personen oder Gruppen, welche aufgrund der Zugehörigkeit zu einer «Rasse, Ethnie, Religion oder aufgrund der sexuellen Orientierung» diskriminiert werden. Diese Aufzählung ist abschliessend.
Der Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free» richte sich jedoch gegen einen Staat (Israel), der kein Schutzobjekt der betreffenden Strafnorm sei, argumentierten die Strafverfolger. Die Staatsanwaltschaft sei streng dem Gesetz verpflichtet und habe «keine moralische oder politische Beurteilung vorzunehmen», sagte damals ein Sprecher der Basler Behörde zur NZZ.
Zürich lieferte keine Begründung
Doch damit hätten es sich die Staatsanwaltschaften in der Schweiz zu einfach gemacht, entgegnen Mengel und Rottenberg. Sie hätten den geschichtlichen Hintergrund des Slogans und dessen Bedeutung nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober mit lapidaren Aussagen ausgeblendet und einseitig auf den Wortlaut geachtet.
Und deutlicher noch: Das ohne Berücksichtigung des Kontextes gewonnene Resultat sei schlicht «nicht nachvollziehbar». Besonders hart wird die Zürcher Staatsanwaltschaft kritisiert Diese habe für ihren Entscheid nicht einmal eine Begründung geliefert.
Der Slogan «From the river to the sea» könne zwar tatsächlich unterschiedlich gedeutet werden, sagen Rottenberg und Mengel: beispielsweise als Forderung nach Freiheit für Palästinenserinnen und Palästinenser unter israelischer Besetzung, aber eben auch als Wunsch nach der Zerstörung Israels, einschliesslich der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner – wenn nicht gar aller Jüdinnen und Juden.
«Die gegenwärtige Bedrohungslage von Jüdinnen und Juden weltweit seit dem Terrorangriff lässt diese theoretischen Überlegungen keineswegs unrealistisch erscheinen», argumentieren sie. Dies umso mehr, als sich die Hamas nie von ihrer Charta aus dem Jahre 1988 distanziert habe, in der von der Tötung aller Jüdinnen und Juden die Rede ist. Mit dem Terroranschlag habe sie ihre Drohung wahr gemacht.
In der Folge hätten auch in der Schweiz Gewalttaten gegenüber jüdischen Personen drastisch zugenommen, so Rottenberg und Mengel. Die Häufung von solchen Straftaten nach dem 7. Oktober, begangen unter Anrufung der Slogans und anderer Sympathiekundgebungen für die Hamas, sei kein Zufall. Die Auffassung, es liege kein Schutzobjekt vor, sei deshalb nicht einleuchtend.
Lässt jüdische Personen «ratlos zurück»
Auch in Bezug auf die zwei anderen Straftatbestände, die Aufforderung zur Gewalttätigkeit sowie die Unterstützung einer terroristischen Organisation, werfen die Juristinnen den Staatsanwaltschaften einen zu engen und zu einseitigen Blick vor. Sie argumentieren ähnlich: Eine Verurteilung sei zwar nicht sicher, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaften hätten einen zu engen Blick gehabt.
Die Stellungnahme könnte durchaus Bedeutung bekommen: Sie liefert Strafverfolgungsbehörden ein mit Bundesgerichtsentscheiden und Lehrmeinungen untermauertes Argumentarium, um in ähnlichen Fällen künftig doch noch aktiv zu werden und Gerichtsentscheide anzustreben.
Die Autorinnen erheben in ihrem Papier nämlich einen weiteren schweren Vorwurf: Gänzlich auf der Strecke geblieben sei in der Betrachtungsweise der Staatsanwaltschaften die Opferperspektive von Jüdinnen und Juden. «Allgemein wird die Opferperspektive grossgeschrieben – nicht aber bei Jüdinnen und Juden», kritisiert Vera Rottenberg im Gespräch mit der NZZ.
Dass auf deren auf historischer Erfahrung beruhende Gefühlslage keinerlei Rücksicht genommen worden sei und stattdessen ungeachtet der Geschehnisse eine einseitige Auslegung des Wortlautes erfolgt sei: Das lasse die betroffenen Jüdinnen und Juden «ratlos zurück».