Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit will die «jüdische Souveränität» über die auch für Muslime heilige Stätte wiederherstellen. Die obersten Rabbiner verurteilen das vehement – und die ultraorthodoxen Parteien drohen mit dem Regierungsaustritt.
Schon lange rüttelt Itamar Ben-Gvir am Status quo auf dem Tempelberg in Jerusalem. Erst vor zwei Wochen forderte Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit, dass Juden erlaubt sein solle, auf dem auch für Muslime heiligen Ort zu beten. Am Dienstag zog er dann anlässlich des jüdischen Fastentages Tisha b’av zum Tempelberg, um das Gebet zu verrichten. Wie schon Ende Juli verurteilte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu Ben-Gvir in einer knappen Erklärung, traf allerdings keine Vorkehrungen, um den provokativen Marsch zum Felsendom zu verhindern. So weit, so bekannt.
Doch dieses Mal erhielt der nationalreligiöse Politiker nicht nur starken Gegenwind von Muslimen, sondern auch von strenggläubigen Juden. Am Mittwoch veröffentlichten fünf hochrangige Jerusalemer Rabbiner ein Video mit arabischen Untertiteln. Darin sagte der ehemalige oberste Rabbi der sephardischen Juden über Ben-Gvir und andere rechtsextreme Regierungsmitglieder: «Betrachten Sie die fraglichen Minister nicht als Vertreter des Volkes Israel. Sie sind es nicht.»
Rabbiner untersagen Juden den Besuch des Tempelbergs
Ben-Gvir begründet seine Tempelberg-Visiten mit der jüdischen Überlieferung. Sobald der Messias erscheint, beginnt die Erlösung, und der dritte Tempel wird gebaut, der sich dort befindet, wo schon die ersten zwei standen: auf dem Tempelberg. Mit den jüdischen Gebeten auf dem heiligen Areal will der Nationalreligiöse die Ankunft des Messias beschleunigen.
Die meisten Ultraorthodoxen werten dies allerdings als irdische Anmassung. Das Betreten des Tempelbergs ist nach orthodoxer Auffassung verboten. Die Rabbiner argumentieren, dass die genaue Lage des Tempels – also der Ort göttlicher Präsenz – nicht bekannt sei. Diesen Bereich dürfe man nur in rituell reinem Zustand betreten, sonst begehe man eine Todsünde. Nach jüdischem Gesetz ist es derzeit nicht möglich, den Zustand ritueller Reinheit zu erreichen. Daher riskieren Besucher des Tempelbergs, eine Todsünde zu begehen.
Diese Anordnung geht Hand in Hand mit der politischen Übereinkunft, die seit der Eroberung des Tempelbergs und des Rests der Altstadt von Jerusalem während des Sechstagekriegs von 1967 gilt. Seitdem verwaltet die jordanische Wakf-Stiftung das Areal, auf dem sich auch die Al-Aksa-Moschee befindet, die drittheiligste Stätte des Islam. Juden dürfen den Tempelberg demnach zwar betreten, aber nicht dort beten.
Ben-Gvir stellt sich klar gegen diesen Status quo und proklamierte am Dienstag stolz, dass es seine erklärte Politik sei, Juden das Gebet auf dem Tempelberg zu ermöglichen. Seine Aussagen waren ein gefährliches Manöver in Zeiten höchster Anspannung im Nahen Osten und stiessen in der arabischen Welt auf erwartbare Empörung. Doch auch für die jüdischen Ultraorthodoxen war es ein Schlag ins Gesicht.
Zerbricht die Regierung wegen des Tempelbergs?
Daher waren nicht nur die Rabbiner, sondern auch die politischen Vertreter der Ultraorthodoxen empört. Einige ultraorthodoxe Parlamentsabgeordnete sagten warnend, dass Ben-Gvirs Verhalten ihre Kooperation mit dem Nationalreligiösen in der Regierungskoalition infrage stelle. Eine Zeitung, die mit der ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Thora-Judentum verbunden ist, schrieb am Dienstag, Ben-Gvir bringe jüdisches Leben in Gefahr.
Obgleich ein Regierungsaustritt der ultraorthodoxen Parteien unwahrscheinlich ist, vertieft die Tempelberg-Kontroverse die Gräben in Netanyahus Koalition. Der israelische Fernsehsender Channel 12 berichtete, dass Oppositionsführer Yair Lapid mit dem Vorsitzenden der ultraorthodoxen Shas-Partei gesprochen habe, um den Entscheid der Rabbiner in ein Gesetz zu giessen. Die Ultraorthodoxen sollen sich bereit erklärt haben, diesen Vorstoss der Opposition nach Ende der parlamentarischen Sommerpause zu unterstützen.








