Im Prozess gegen den früheren Präsidenten des Biathlon-Weltverbandes, Anders Besseberg, wird kaum ein negatives Klischee ausgelassen. Und es geht um die Freundschaft mit einem früheren Manager des Zuger Sportvermarkters Infront.
In diesen Tagen findet in Norwegen ein Strafprozess statt, den nicht nur die Bürger des skandinavischen Landes so gebannt verfolgen, dass dort manche Nachrichten-Websites fast jedes Wort protokollieren. Auch führende Sportfunktionäre auf der ganzen Welt schauen genau hin. Vor Gericht steht ihr ehemaliger Kollege Anders Besseberg, von 1993 bis 2018 Präsident der Internationalen Biathlon-Union (IBU). Fast wirkt es, als habe sich der 77-Jährige in seiner Amtszeit bemüht, sämtliche negativen Funktionärsklischees zu bestätigen.
Nachdem die Ära zu Ende gegangen war, liess der Biathlon-Weltverband IBU einen 220 Seiten langen Untersuchungsbericht erstellen, der Bessebergs mutmassliche Verfehlungen in fast peinlicher Detailtreue wiedergibt. Es wird geschildert, wie er sich zu Jagdreisen in Russland einladen liess, bald in Chanty-Mansijsk, bald in Tjumen. Erwähnt werden mutmassliche Bestechungsgelder von insgesamt bis zu 300 000 Dollar. Und immer wieder geht es um russische Prostituierte.
Es galt in der IBU gemäss dem Bericht als offenes Geheimnis, dass Besseberg bei Aufenthalten in Russland junge Frauen zur Seite gestellt bekam, offiziell als Übersetzerinnen. Der Norweger gab demnach in einem Polizeiverhör zu, dass sich ihre Dienste nicht aufs Dolmetschen beschränkten. Angesprochen auf einen konkreten Fall, erklärte er, nicht zu wissen, wer die Dame, die ihm zwischen 2010 und 2014 Gesellschaft geleistet habe, bezahlt habe. Sie sei wohl von jemandem geschickt worden.
Auf die Frage, ob die Prostituierten von seinen Gastgebern organisiert worden seien, antwortete er: «Das mag wohl passiert sein.» Er sei nie «auf die Strasse gegangen». In Russland wurde alles für Besseberg geregelt.
Bei einer Razzia in seinem Zuhause fand die Polizei darüber hinaus dreizehn Uhren, teils von bekannten Luxusmarken, teils wahrscheinlich von russischen Herstellern. Einige bezeichnete der Norweger als Geschenke, bei anderen blieb die Herkunft ungeklärt.
System der rohen Unkultiviertheit
Vor Gericht in Hokksund bei Oslo geht es vordergründig um die Frage, ob der Funktionär im Gegenzug für die Gefälligkeiten half, russische Dopingfälle zu vertuschen, oder ob er das Land bei der Vergabe von Grossanlässen bevorzugte. Er bestreitet beides. Auf einer Metaebene wird einem System der Prozess gemacht, in dem Korruption und Intrigen alltäglich gewesen sein sollen, ein System der rohen Unkultiviertheit. Früher galten Exzesse in der Welt der Sportfunktionäre bis zu einem gewissen Grad als normal. Heute haben sich die Zeiten an vielen Orten geändert (siehe Zusatztext).
Minuziös schildern norwegische Medien wie NRK ein Verfahren, in dem nebenbei auch über Fasanenküken, die Kategorisierung von Hirschgeweihen und seltene Schafsgattungen gesprochen wird. Besseberg wird lauter, wenn er Fragen als tendenziös empfindet, aber auch, wenn er seine Errungenschaften als Jäger unzureichend gewürdigt sieht. «Ich verstehe, dass der Staatsanwalt keine Ahnung von Jagd und Tieren hat», blafft er dann. Ein anderes Mal erntet er Gelächter, als er zum Besten gibt, wie ihm im Wald ein Reh vor die Flinte gerät, während er gerade pinkelt.
Besseberg beteuert bezüglich der Korruptionsvorwürfe seine Unschuld. Aber er nutzt die Aufmerksamkeit im Gerichtssaal auch zur Selbstinszenierung. Als wolle er genüsslich nochmals jene Zeiten aufleben lassen, in denen sich die Mächtigen des Sports noch deutlich mehr erlaubten als heute.
Fast romantisches Kennenlernen
Weil seine Schilderungen teilweise erratisch wirken, dürfte Besseberg auch bei Infront für Nervosität sorgen, einer der wichtigsten internationalen Sportmarketingfirmen, ihr Hauptsitz befindet sich an bester Lage in Zug. Der Grund: Vor Gericht wird immer wieder eine Männerfreundschaft zum Thema, die Besseberg mit dem ehemaligen Infront-Manager S. pflegte.
An diesem Dienstag trat S., der sich wie Besseberg schon lange im Rentenalter befindet, in Norwegen als Zeuge auf. Gemäss NRK schilderte er ein geradezu romantisches Kennenlernen 1994 in Lillehammer, «während der schönsten und grossartigsten Winterspiele». Man habe festgestellt, ein gemeinsames Hobby zu haben, die Jagd. «Dann sind wir schnell Freunde geworden.»
Dass Besseberg und S. in den folgenden Jahren mehrfach gemeinsam jagen gingen, ist unbestritten. Es liegt nahe, dass sie dabei auch über Geschäftliches sprachen. Besseberg bezeichnete S. vor Gericht als «Sparringspartner» und «Mentor». Die Juristen beschäftigt jetzt die Frage, wer die Ausflüge bezahlte – und vor allem, ob Infront im Gegenzug für mögliche Spesenübernahmen von der IBU als Geschäftspartner bevorzugt wurde.
Abgestimmt mit der norwegischen Staatsanwaltschaft, läuft in Österreich ein Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs der Untreue und der Korruption, unter anderem gegen Infront Austria. Bereits im April 2023 durchsuchte das Bundeskriminalamt die Büros der Tochterfirma in Salzburg. Im Raum stehe der Verdacht, dass «Bestechungsgelder und sonstige geldwerte Vorteile» versprochen und angenommen worden seien, teilt die Wiener Staatsanwaltschaft mit. Im Gegenzug könne es zu Vertragsabschlüssen gekommen sein, die für den Biathlon-Weltverband ungünstig gewesen seien.
Kirch, Louis-Dreyfus, Netzer
Infront gerät nicht zum ersten Mal in die Schlagzeilen, diffuse Verdachtsmomente begleiten die Firma durch ihre wechselvolle Geschichte. Bisher blieb von vermeintlichen Skandalen juristisch wenig übrig, was jedoch nicht immer dazu führte, dass die Vorwürfe aus den Medien verschwanden.
Schuld am Zerrbild sind nicht zuletzt die illustren Namen, welche die Vergangenheit der Firma prägten. Infront ging einst aus dem Medienimperium von Leo Kirch hervor, der 2002 an seinen forschen unternehmerischen Plänen scheiterte und pleiteging. Es übernahm ein Konsortium unter der Führung des ehemaligen Adidas-Chefs Robert Louis-Dreyfus, der später in Verdacht geriet, wesentlich am mutmasslichen Kauf der Fussball-WM 2006 durch Deutschland beteiligt gewesen zu sein. Zeitweise fungierte danach Günter Netzer, Fussballer und Lebemann, bei Infront als Repräsentant nach aussen.
Die kolportierten Fehler von Kirch und Louis-Dreyfus standen zwar in keinerlei Zusammenhang mit Infront, und der sprunghafte Netzer nahm dort kaum je Einfluss aufs operative Geschehen – aber dennoch prägten alle drei das Image des Zuger Sportvermarkters.
Seit 2005 wird Infront von Philippe Blatter geleitet, er ist ein Neffe des früheren Fifa-Präsidenten Joseph Blatter. Obwohl ihm zuvor eine Karriere bei McKinsey gelungen war, er seinen Aufstieg also kaum dem berühmten Onkel und dessen Kontakten im Fussball verdankt, ist der Nachname bis heute eine Hypothek. Als der Infront-Besitzer Wanda Sports 2019 Aktien ausgab, wurden potenzielle Anleger im Börsenprospekt davor gewarnt, es gebe immer wieder «Gerüchte über Interessenkonflikte und Nepotismus».
Der Warnhinweis erfolgte, als Joseph Blatter seinen Posten an der Fifa-Spitze bereits seit vier Jahren verloren hatte. Was vor allem zeigt, wie hartnäckig sich Erzählungen halten können.
Infront bemüht sich geradezu streberhaft, das Vorurteil zu entkräften, Bestechungsversuche und Kumpanei gehörten zum Alltag. Seit 2012 gibt es ein Compliance-System, das seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und von mehreren Zertifizierungsstellen überprüft wurde. Der finanzielle Spielraum bei Einladungen ist klein, und eine Whistleblower-Line ermöglicht es, mutmassliche Regelverletzungen von Kollegen anonym bekanntzumachen. Erst vor kurzem erhielt ein Mitarbeiter nach einer entsprechenden Meldung eine Verwarnung.
Eidesstattliche Erklärungen
Als vor Jahren ein anderer Angestellter in Verdacht geriet, sich bereichert zu haben, indem er unter anderem die Zeitspannen der Bandenwerbung bei Fussballspielen abkürzte, gaben Blatter und weitere Führungskräfte eidesstattliche Erklärungen ab: Sie hätten vom Treiben des Mannes nichts gewusst. An der fast kampagnenartigen Berichterstattung gegen Infront änderte das wenig.
Mittlerweile wurde in Deutschland ein mutmasslicher Komplize des früheren Angestellten zu einer Haftstrafe verurteilt. Während des Verfahrens am Reutlinger Amtsgericht bestätigte sich die Darstellung von Infront, in der Causa «Sekundenklau» kein Täter gewesen zu sein, sondern Opfer eines Netzwerks von Betrügern. Doch als das Urteil gesprochen war, war der Flurschaden längst entstanden: Der Deutsche Fussball-Bund hatte seinen langjährigen Vermarktungsvertrag mit Infront gekündigt. Heute arbeitet man auf Service-Ebene wieder zusammen.
Entsprechend empfiehlt sich auch bei der Bewertung der derzeitigen Vorwürfe im Biathlon eine differenzierte Betrachtung – und tatsächlich gibt es entlastende Indizien. Für den Umstand, dass Infront Besseberg einen BMW beschaffte, gibt es eine Erklärung. Der Autobauer ist Titelsponsor des Biathlon-Weltcups. Ein BMW-Sprecher teilt mit, eine Nutzung der Fahrzeuge durch IBU-Offizielle sei «vertraglich gestattet und auch gewünscht», wobei die «Zuteilung und Abwicklung» dem Vertragspartner übertragen worden sei. Dieser Vertragspartner war Infront.
Bessebergs Freund S. war bei Infront kein gewöhnlicher Mitarbeiter. Der Zuger Konzern hatte im Mai 2005 die Mehrheit an einer Firma übernommen, in welcher S. einer der Geschäftsführer gewesen war. Eine Zeitlang blieb S. nach der Übernahme noch operativ tätig, doch ab Ende 2009 fungierte er nur noch als Berater. Als solcher hatte er mit grosser Wahrscheinlichkeit keinen Einfluss auf Vertragsgespräche.
Im norwegischen Prozess wurden E-Mails publik, die darauf hindeuten, dass Infront zeitweise tatsächlich Jagdreisen finanziert haben könnte. Ein anderer Mitarbeiter des Konzerns soll S. beispielsweise 2010 geschrieben haben, man stimme den Aktivitäten zu. Angeblich geschah dies am selben Tag, als Besseberg von S. zu einem Ausflug eingeladen wurde. Eine weitere Nachricht eines Managers im Jahr 2012 erweckt den Eindruck, Infront habe es für wichtig gehalten, die Jagden aufrechtzuerhalten.
Entscheidend ist im Verfahren jedoch die Frage, ob die IBU Infront tatsächlich begünstigte. Der Sportvermarkter weist das entschieden zurück. Die Vereinbarungen seien «von jeher marktüblich und durch Gremienbeschlüsse innerhalb der IBU breit abgestützt» gewesen, sagt ein Firmensprecher. «Wir bestreiten jegliche unrechtmässige Einflussnahme auf das Zustandekommen dieser Verträge.»
Auch S. beteuerte vor Gericht, dass er nie mit Besseberg über Verträge verhandelt habe. Was mit der Darstellung des ehemaligen Biathlon-Funktionärs übereinstimmt.
Ein weiterer Hinweis, dass Infront von der IBU keineswegs übervorteilt wurde: Immer wieder bewarb sich die Zuger Firma ohne Erfolg um die Medienrechte bei Biathlonanlässen. Den Zuschlag erhielt stets ein Konkurrent. Infront war und ist lediglich der Partner der IBU im Bereich der Werbe- und Sponsoringrechte.
Einiges spricht dafür, dass die Angelegenheit für den Sportvermarkter wieder einmal glimpflich ausgeht – selbst im Fall, dass die Wiener Staatsanwaltschaft Anklage gegen Infront Austria erhebt, nachdem das Verfahren in Norwegen abgeschlossen ist.
Klar ist jedoch auch: Solange sich in manchen Verbänden Funktionäre an der Spitze befinden, die agieren, als gälten Regeln nur für andere, dürfte es für eine Firma wie Infront schwierig bleiben, Ärger kategorisch zu vermeiden. Es prallen gegensätzliche Managementmodelle aufeinander.
Der Sport hat sich gebessert – aber jetzt geraten Fortschritte in Gefahr
Lamine Diack ist ein Paradebeispiel. Der ehemalige Präsident des Leichtathletik-Weltverbands liess sich bestechen, um Dopingfälle russischer Sportler zu vertuschen. 23 Athleten bezahlten ihm und seinen Komplizen gemäss geltender Aktenlage jeweils zwischen 100 000 und 600 000 Euro, weil sie wollten, dass ihr Konsum illegaler Substanzen geheim bleibt.
Ein Pariser Gericht sah Diacks Fehltritt nicht nur in diesem Fall als erwiesen an. Es stellte auch fest, dass während seiner Präsidentschaft, die von 1999 bis 2015 dauerte, Millionenbeträge an Firmen von dessen Sohn umgeleitet wurden, beispielsweise Einnahmen aus Fernsehverträgen. Der Sohn, Papa Massata Diack, war ausserdem mutmasslich in den Stimmenkauf mehrerer Olympia-Bewerber involviert.
Ehemalige Funktionäre wie die Diacks sind schuld, dass sich mancherorts der Eindruck manifestiert hat, die Veranstalter sportlicher Grossanlässe seien mehrheitlich korrupt. Weil es in der Vergangenheit etliche vergleichbare Fälle gegeben hat, setzte sich die Annahme durch, schamlose Bereicherung, zügellose Machtgier sowie das Verwischen der Grenzen zwischen Geschäftlichem und Privatem seien systemimmanent.
Fraglich schien in der allgemeinen Wahrnehmung höchstens noch, ob der Sport Männer anzog, die bereits zuvor einen Hang zu Mauscheleien hatten – oder ob der Sport von vornherein so verseucht war, dass er selbst grundehrliche Männer zu Mauscheleien animierte.
Im Umgang mit dem Diack-Skandal zeigte sich jedoch auch etwas anderes, was nicht ins klischeehafte Bild passt: Sobald der Ruf allzu sehr leidet, sind Sportinstanzen in der Lage, sich fundamental zu reformieren.
Heute gibt es beim Leichtathletik-Weltverband World Athletics einen Ethik-Code, eine Ethik-Kommission und mit der «Athletics Integrity Unit» eine der rigorosesten Antidoping-Agenturen. Diacks Nachfolger Sebastian Coe widmete in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft einen grossen Teil seiner Arbeitszeit der erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung.
Der Zürcher Sportjurist Stephan Netzle plädiert dafür, die erzielten Fortschritte anzuerkennen. «Bei vielen Verbänden hat nach den grossen Skandalen ein Umdenken stattgefunden», sagt er. Fehltritte, wie sie dem ehemaligen Biathlon-Funktionär Anders Besseberg vorgeworfen würden, seien sicher kein Einzelfall. «Aber der Sport ist daran, Instrumente zu entwickeln, Spielräume für Amtsmissbrauch zu verkleinern.»
Mehrere Beispiele stützen Netzles These. Beim Internationalen Olympischen Komitee kam es zu Reformen, nachdem offensichtlich geworden war, wie skrupellos Salt Lake City im Bieterstreit um die Winterspiele 2002 Dutzende Funktionäre hofiert hatte. Der Weltfussballverband Fifa modernisierte nach der vielkritisierten Doppelvergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 an Russland und Katar seine Auswahlverfahren und seine internen Strukturen. Und auch der Radsport-Weltverband UCI stellte sich neu auf, nachdem es Athleten wie dem Amerikaner Lance Armstrong gelungen war, Funktionäre in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Der Veränderungsdruck geht nicht zuletzt von Lausanne aus. Das Internationale Olympische Komitee mache Druck auf Einzelsportverbände, gewisse Richtlinien einzuhalten, stellt der Sportjurist Netzle fest.
In der Vergangenheit stürzten Verbände immer wieder dann in Krisen, wenn an der Spitze regelmässige Wechsel ausblieben. Umso mehr sollte es alarmieren, dass derzeit die Präsidenten bei gleich drei grossen Instanzen mehr oder weniger offen danach streben, länger an der Macht zu bleiben, als in den Statuten vorgesehen ist. Dem Fifa-Präsident Gianni Infantino stehen prinzipiell bis zu drei Amtszeiten zu, was zwölf Jahren entspricht. Doch er vertritt die Auffassung, die Startphase von 2016 bis 2019 zähle nicht, weil er damals seinen Vorgänger Joseph Blatter ausserplanmässig ersetzte.
Auch Thomas Bach und Aleksander Ceferin, die Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees und der Europäischen Fussballunion Uefa, liebäugeln mit der Idee, sich entgegen der bisher geltenden Regeln noch einmal wählen zu lassen.
Die Entwicklung lässt wenig Gutes erwarten: Was in den grossen Verbänden passierte, hatte schon immer eine Signalwirkung.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»