Der Publikumsliebling gewinnt in Melbourne trotz einem 0:2-Satzrückstand. Der erst 22-jährige Südtiroler geniesst schon jetzt enorme Popularität. Viele vergleichen ihn mit dem jungen Roger Federer.
Italien ist die Heimat der schönen Künste, des guten Essens, der wundersamen Landschaften. Vor allem aber auch des Calcio, des Fussballs, welcher die Sport-Agenda an den Wochenenden monopolisiert. Allen Problemen um Rassismus und Fangewalt zum Trotz bleibt die Serie A doch eine Herzensangelegenheit für die meisten Italiener. Wie der Cappuccino und das Cornetto zum Frühstück.
Welche Anhäufung von Klischees? Nein, es ist auch der Ausdruck einer stillen Sehnsucht, die praktisch jeder in sich trägt und das Bild dieses wunderbaren Landes prägt. Italien ist mittlerweile sogar eine Tennis-Nation, die Heimat von Jannik Sinner und vier weiteren Top-100-Spielern. Matteo Berrettini, der im Sommer 2022 in Wimbledon im Final stand, liegt nach verschiedenen Verletzungen im Ranking noch auf Position 124. Mit 27 Jahren ist seine Karriere längst nicht vorüber.
Die neuste Sensation auf der Tennis-Tour ist der erst 22-jährige Sinner. Der Südtiroler gilt zwar schon lange als Ausnahmetalent. Erst in der letzten Saison gelang ihm der Durchbruch, und er schob sich im Ranking auf Position 4. Er hat damit in Italien eine Tennis-Euphorie ausgelöst, welche den Norden und den Süden vereint. Seit Sinner vor zwei Tagen den grossen Dominator Novak Djokovic in drei Sätzen entzaubert und aus dem Turnier verabschiedet hatte, fieberte ein ganzes Land und mit ihm all jene, die Italien in Sehnsucht verbunden sind, diesem Sonntag entgegen: dem Final-Tag des Australian Open, an dem Sinner gegen den Russen Daniil Medwedew um den ersten grossen Titel in der neuen Saison spielte.
Jannik Sinner war der Favorit der Herzen
Medwedew ist bereits Major-Sieger. Und er stand 2021 und 2022 in Melbourne jeweils im Final. Doch den einzigen Major-Titel feierte er im Herbst 2021 am US Open, als er Djokovic am Gewinn des Kalender-Grand-Slams gehindert hatte. Der 25-jährige Russe ist eine Art Enigma, ein Rätsel, das sich sogar ihm selber nicht immer erschliesst. Das war auch im Final des Australian Open so.
Die Sympathien waren vor dem Match klar verteilt: Sinner war der Favorit der Experten, vor allem aber auch jener der Herzen. Der junge Südtiroler gehört nicht nur wegen seiner italienischen Herkunft, sondern auch wegen der offenen, umgänglichen Art bereits jetzt zu den populärsten Spielern auf der Tour.
Nicht wenige vergleichen ihn wegen seiner Vielsprachigkeit und seiner formvollendeten Umgangsformen mit dem jungen Roger Federer. Dazu beigetragen hat auch, dass Sinner jüngst in einem Interview mit der Mailänder Zeitung «Corriere della Serra» sagte, Federer sei sein Jugendidol gewesen. Dürfte er für einen Tag in die Haut eines anderen Spielers schlüpfen, dann in jene Federers.
Gegen Sinners Popularität hatte Medwedew einen schweren Stand. Der fünf Jahre ältere Russe gilt als intelligenter, durchaus amüsanter, aber auch sonderbarer Zeitgenosse. Immer wieder eckt er mit kontroversen Meinungen und Äusserungen an. Vor seinem Halbfinal gegen den Deutschen Alexander Zverev etwa überraschte er in einem Interview auf Eurosport mit der Aussage, im Gegensatz zu dem, was Zverev kolportiere, seien sie beide alles andere als Freunde.
Das sind aussergewöhnliche Äusserungen in der Tennis-Szene, die stets um das Bild von Freundschaft und Harmonie unter den Spielern bemüht ist. Zudem ist Medwedew in Russland gross geworden, auch wenn er schon lange in Frankreich lebt. Russische Wurzeln zu haben, ist heute ein nicht zu unterschätzendes Handicap. Selbst dann, wenn man mit Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wie Medwedew nichts zu tun hat.
Medwedew dominiert vom ersten Ballwechsel an
Kaum jemand hatte vor diesem gemessen an der Sympathie ungleichen Final auf Medwedew gesetzt. Die zahlreichen Experten, die im Umfeld der Grand-Slam-Turniere gefragt und teilweise auch ungefragt ihre Prognosen abzugeben pflegen, setzten fast ausschliesslich auf Sinner.
Die Realität war auf dem Court zunächst eine ganz andere. Medwedew dominierte den Match vom ersten Ballwechsel an. Mit seiner Aggressivität stellte er Sinner vor unlösbare Aufgaben. In den sechs Partien auf dem Weg in den Final hatte der Südtiroler seinen Aufschlag gerade zweimal abgegeben. Im Halbfinal war Djokovic, der wohl beste Return-Spieler auf der Tour, zu keinem einzigen Breakball gekommen. Medwedew hingegen nahm Sinner im Final bereits das zweite Aufschlagspiel ab.
Bis in den dritten Satz hinein spielte praktisch nur ein Spieler: Medwedew. Als Sinner beim Stand von 1:5 im zweiten Satz zu den ersten Breakbällen kam und den zweiten davon nutzte, hatte Medwedew ihn bereits viermal gebreakt und sieben weitere Gelegenheiten ungenutzt gelassen.
Doch Sinners Break veränderte die Physiognomie des Matchs völlig. Medwedew gewann Satz zwei zwar noch. Doch Sinner und sein Betreuerstab hatten längst Lunte gerochen. Möglicherweise stiegen im Kopf des Russen die Bilder jenes Finals vor zwei Jahren auf, als er gegen Rafael Nadal ebenfalls mit 2:0-Sätzen in Führung gegangen war, danach aber den Faden vollständig verlor und am Ende unterlag. Der Schweizer Tennis-Experte Heinz Günthardt bezeichnete jenes Comeback des Spaniers als «eine der grössten Leistungen, die ich im Tennis je gesehen habe».
Doch Tennis ist auch deshalb eine der faszinierendsten Sportarten, weil ein Match erst dann entschieden ist, wenn der letzte Ball tatsächlich gespielt ist. Beide Spieler sahen in diesem faszinierenden Final mindestens einmal wie der sichere Sieger, aber auch wie der sichere Verlierer aus. Immer wieder kippte das Momentum. Einmal hatte Medwedew, dann wieder Sinner Vorteile.
Beide Spieler lauerten auf eine Schwäche und eine Gelegenheit, den Vorteil auf ihre Seite zu ziehen. Die Entscheidung kam beim Stand von 3:2, als Sinner Medwedew den Service zum 4:2 abnahm. Genau 3:32 Stunden waren da gespielt. Eine Viertelstunde später verwandelte Sinner seinen ersten Matchball und machte sich mit 22 Jahren zum jüngsten Australian-Open-Sieger seit Novak Djokovic im Januar 2008.
Sinner ist der Mann der Stunde, Djokovic bleibt die Nummer 1
Auf die Weltrangliste hat der Ausgang des Finals vorerst keinen markanten Einfluss. Novak Djokovic beginnt am Montag seine 410. Woche als Nummer 1. Das ist ein weiterer Rekord des Serben, der für die Ewigkeit zu sein scheint. Doch wie sagte er selber in dieser Woche: «Irgendwann wird jeder Rekord gebrochen. Dazu sind Rekorde da.»
Der Mann der Stunde heisst jedenfalls Sinner. Doch er wird diesen Erfolg bestätigen müssen. Das weiss niemand besser als sein Gegner Medwedew, der seinem zweiten Titel seit mittlerweile zweieinhalb Jahren hinterherläuft. Es war eine jener grossen Qualitäten der Generation um Federer, Nadal und Djokovic, dass sie sich über Jahre, ja fast Jahrzehnte in den Toppositionen hielten und diese Position immer wieder mit Siegen bestätigten.
Sinner hat das Potenzial, selbst in diese grossen Fussstapfen zu treten. Seine ersten Interviews nach dem Triumph blieben unaufgeregt und freundlich. Wie üblich bedankte er sich bei seinem Umfeld und der halben Welt. Als ihn der Australier Nick Kyrgios fragte, was es denn kosten würde, ihn als Trainer zu engagieren, blieb er einen Moment lang sprachlos.
Kyrgios arbeitet während seiner Verletzungpause für verschiedene TV-Stationen. In der vergangenen Woche waren Spekulationen über seinen Rücktritt aufgetaucht, obwohl auch er erst 28 Jahre alt ist. Kurz darauf dementierte er die Meldung auf Instagram und bezeichnete sie als «garbage», Müll.
Sinner sagt: «Für dich würde ich es wohl gratis machen. Aber kehr doch bitte auf den Platz zurück. Persönlichkeiten wie dich brauchen wir im Tennis.» Dabei ist Sinner selber auf bestem Weg dazu, eine jener Persönlichkeiten zu werden.