Trotz schwierigen Voraussetzungen erreicht der Italiener in New York den Final des US Open. Doch die zwei positiven Dopingtests vom Frühjahr werden ihn nicht so schnell loslassen. Auch Roger Federer äussert sich zum Fall.
In der zweiten Turnierwoche des US Open, Novak Djokovic und Carlos Alcaraz sind bereits ausgeschieden, melden sich auch noch Roger Federer und Rafael Nadal zu Wort. Federer und Nadal? Was wollen die beiden denn? Der eine ist seit mittlerweile zwei Jahren zurückgetreten und ein Tennis-Pensionär, der andere gerade wieder einmal angeschlagen und im Vorruhestand.
Federer und Nadal haben in New York mehrmals gewonnen, und ihre Meinung interessiert und zählt allein schon deshalb, weil sie Federer und Nadal sind. Doch das Thema der beiden waren in der vergangenen Woche weder ihre Erfolge noch ihre Rivalität, die daneben auch eine Freundschaft voller gegenseitigem Respekt gewesen war. Sie sprachen über Jannik Sinner, ihren Nachfolger an der Weltranglistenspitze.
Sinner ist gerade 23 Jahre alt und schon Major-Sieger. Im Januar gewann er das Australian Open und erfüllt damit die hohen Erwartungen, die ihn seit seiner frühen Jugend begleiten. Seit Anfang Juni führt er die Weltrangliste an. Und nun steht er auch am US Open im Final, in dem er am Sonntagabend (ab 20 Uhr MESZ) auf den Amerikaner Taylor Fritz trifft.
Im Halbfinal vom Freitag schlug Sinner den physisch angeschlagenen Briten Jack Draper in drei Stunden 6:4, 7:6, 6:2. Er vergass danach im Platz-Interview nicht, zuerst seinem Gegner zu danken, der neben dem Platz auch ein naher Bekannter und ein Freund sei. Draper litt in seinem ersten Grand-Slam-Halbfinal offensichtlich. Zweimal musste er sich auf dem Platz übergeben. Das waren denkbar schlechte Voraussetzungen, um Sinner ernsthaft zu fordern.
Die Schatten des Zweifels
Der Südtiroler ist der Shootingstar der laufenden Saison. Doch Federer und Nadal lobten nicht sein Talent oder die Konstanz, die er in dieser Saison zeigt. Sie sprachen ihm das Vertrauen aus. Seit knapp drei Wochen steht der Italiener im Verdacht, gedopt zu haben. Im Frühjahr in Indian Wells und ein paar Wochen später im Training war er zweimal positiv auf das Steroid Clostebol getestet worden. Die International Tennis Integrity Agency (Itia), die entsprechende Fälle untersucht und ahndet, sperrte Sinner daraufhin vorsorglich.
Doch Sinner hat wegen des potenziellen Dopingfalls keinen Match verpasst. Ein unabhängiges Gericht hob diese Sperre umgehend wieder auf und sprach ihn nun vor gut zwei Wochen endgültig frei. Dem Italiener sei weder ein Verschulden noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Sinner und seine Rechtsvertreter konnten dem Gericht glaubhaft erklären, dass die verbotene Substanz über die Hände seines Physiotherapeuten in seinen Körper gelangt sei.
Die Erklärung stiess bei seinen Konkurrenten auf mässiges Verständnis. Der langjährige Weltranglistenerste Novak Djokovic sagte bei seiner Medienkonferenz vor dem Start des US Open, er verstehe, dass gewisse Spieler sich nun fragen würden, ob da verschiedene Massstäbe angelegt würden.
Am 6. September, am Tag von Sinners Halbfinal gegen Draper, lief die Frist für eine Berufung gegen den Freispruch Sinners ab. Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hatte in Aussicht gestellt, gegen den Freispruch Berufung beim Sportgerichtshof in Lausanne einzulegen. Doch ob sie das tatsächlich getan hat, ist offen. Möglicherweise wartet die Wada nur das Ende des US Open ab, ehe sie kommuniziert. Sollte sie keinen Einspruch eingelegt haben, ist der Fall für Sinner zumindest formaljuristisch abgeschlossen.
Und hier kommen Federer und Nadal ins Spiel. Der Südtiroler gewann die ersten 16 Partien des Jahres und 2024 bis zum Final in New York bereits fünf Titel. Federer sagte diese Woche in der Sendung «Today» auf dem amerikanischen Sender NBC: «Ich denke, wir alle vertrauen so ziemlich darauf, dass Jannik nichts Verbotenes getan hat.» Gleichzeitig fügte er aber auch an, mögliche Unstimmigkeiten müssten geklärt werden. Er bezog sich darauf, dass Sinner nicht aussetzen musste. «Ich verstehe den Frust und die Frage: Ist er genauso behandelt worden wie andere?»
Im Gegensatz zum Baselbieter hatte sich Nadal klar auf die Seite des Italieners gestellt. Der Mallorquiner sagte in einer spanischen Talkshow, er vertraue den Gremien und sehe keine Bevorzugung Sinners. «Daran glaube ich, und davon bin ich überzeugt. Ich respektiere aber auch die Meinung der anderen.»
Sinner selber zeigte sich in New York erstaunlich abgeklärt und auch gut beraten. Er begegnete dem enormen Druck und den Verdächtigungen, die ihn belasteten, mit bemerkenswerter Abgeklärtheit. Nach seinem Sieg in der zweiten Runde gegen den Amerikaner Alex Michelsen sagte er an der Medienkonferenz, angesprochen auf die Kritik, die vor allem der Australier Nick Kyrgios wiederholt geäussert hatte: «Jeder ist frei zu sagen, was er denkt. Ich verfolge das ziemlich gelassen, und ich bin nicht nachtragend. Ich vergesse schnell.»
Ridiculous – whether it was accidental or planned. You get tested twice with a banned (steroid) substance… you should be gone for 2 years. Your performance was enhanced. Massage cream…. Yeah nice 🙄 https://t.co/13qR0F9nH2
— Nicholas Kyrgios (@NickKyrgios) August 20, 2024
Mehr als die Zweifel seiner Konkurrenten traf Sinner offensichtlich der Hass, der ihm auf den sozialen Plattformen entgegenschlug. Dort wurde er mit Beschuldigungen und Beschimpfungen eingedeckt. Das sei für ihn nicht neu, es gebe dort immer heftige Reaktionen. Positive und auch weniger positive. «Wenn immer ich verliere, dann kommen sie. Ich begegne ihnen, indem ich mich so weit wie möglich von diesen Plattformen fernhalte.»
Es waren reife und abgeklärte Worte eines Jungstars, der in den vergangenen Wochen erstmals auch die dunklen Seiten des Geschäfts kennengelernt hatte. Niemand kann mit abschliessender Sicherheit sagen, ob Sinner schuldig oder unschuldig ist. Wie immer in der Rechtsprechung gilt auch hier der Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten.
Der Unterschied zwischen echten und falschen Freunden
Sinner und sein Umfeld sind abgeklärt genug, um zu wissen, dass eine Affäre wie jene um den Dopingverdacht nicht einfach ausgesessen werden kann. In New York sagte der Italiener: «Die Erfahrungen der letzten Wochen helfen mir zu unterscheiden, wer meine Freunde sind und wer nicht. Doch das ist wohl Teil des Reifeprozesses. Ich wünsche niemandem, auf diese Art und Weise wachsen und Erfahrungen sammeln zu müssen. Es ist keine angenehme Art. Aber in Momenten wie diesen begreift man: Es gibt auch ein Leben ausserhalb des Tennis-Courts, das wichtiger ist als all das, was wir als Sportler tun.»
Nun trennt Sinner noch ein Sieg vom zweiten Major-Sieg der Karriere und auch im laufenden Jahr. In den ersten Runden des Turniers zeigte er einige Schwächen. Es scheint, als hätte ihn die Affäre um den Dopingfall bei allem Bemühen um Gelassenheit mental gefordert. Doch es gelang ihm, sich von Match zu Match zu steigern.
Den Schatten der Dopingvorwürfe wird Jannik Sinner aber wohl lange oder gar nicht mehr loswerden. Doch an Widerständen zu wachsen und nicht an ihnen zu zerbrechen, das unterscheidet echte von vermeintlichen Champions. Sollte Sinner am Sonntagabend in New York triumphieren, dann wird niemand ernsthaft bezweifeln, dass er zur ersten Kategorie gehört.
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