Die Unterschiede zwischen den Zürcher Gemeinden sind gross. Warum eigentlich?
Das Gymi-Paradies und die Gymi-Wüste sind nur eine kleine Anhöhe voneinander entfernt.
Uitikon und Dietikon trennen fünf Kilometer Luftlinie, fünfzehn Fahrminuten und rund 80 000 Franken an durchschnittlichem steuerbarem Einkommen. In Uitikon – einem ruhigen Vorort von Zürich, ländlich und doch nah an der Stadt – gehen von 100 Primarschülern 37 ins Gymnasium, ein kantonaler Spitzenwert. In Dietikon – einer dicht bebauten Agglo-Gemeinde, direkt an Bahnlinie und Autobahn – sind es bloss deren vier.
In Uitikon, sagt die dortige Schulpräsidentin Caroline Čada, sei die Elternschaft bildungsnah, das Gymi sei früh ein Thema und der zusätzliche Unterstützungsbedarf bei der Vorbereitung gering. «Kinder, deren Eltern schon im Gymi waren, schlagen selbst eher diesen Weg ein», sagt Čada. «Das zeigt sich auch bei uns.»
In Dietikon, sagt der dortige Leiter Bildung Pier Antonio Chalfajew, wohnten seit je viele, die aus finanziellen Gründen aus Zürich ins Limmattal auswichen. Es hat wenig Akademiker, viele Geringverdiener und 60 bis 80 Prozent fremdsprachige Kinder in der Schule. «Das Gymi ist hier nicht der Königsweg», sagt Chalfajew. «Viele – selbst sehr Begabte – trauen es sich teilweise nicht zu.»
Rund 8000 Primar- und Sekundarschüler treten jedes Jahr zur Zentralen Aufnahmeprüfung für die Zürcher Gymnasien an, so auch am Montag wieder. Jeweils die Hälfte besteht, die andere Hälfte nicht. Die Chancen, es zu schaffen, sind dabei jedoch sehr ungleich verteilt. Welche Kinder schaffen den umkämpften Gymi-Einzug am ehesten? Und warum?
Wir beleuchten vier verbreitete Irrtümer über den Zürcher Gymi-Einzug – mit einer exklusiven Datenanalyse zu allen Schulgemeinden des Kantons.
Irrtum 1: Die Unterschiede sind doch gar nicht so gross
Das stimmt nicht. Wie viele Kinder ins Gymnasium gehen, ist je nach Gemeinde extrem unterschiedlich.
Das zeigt sich nicht nur in Uitikon und Dietikon. Es zeigt sich auch, wenn man die wohlhabende Goldküste mit dem abgelegenen Tösstal vergleicht. In Gemeinden wie Meilen, Küsnacht oder Zollikon geht jeder dritte oder vierte Sechstklässler nach der Primarschule ins Gymi. In Bauma, Turbenthal oder Zell ist es jeder fünfzehnte bis zwanzigste.
In der Stadt Zürich zeigen sich ähnliche Unterschiede: Im Arbeiterquartier Schwamendingen gehen 8,1 Prozent der Sechstklässlerinnen und Sechstklässler ans Gymnasium. Im exklusivsten Quartier der Stadt – dem Zürichberg – sind es 34,1 Prozent, also gut vier Mal so viele.
Interessant ist auch der Fall der Agglomerationen: Rund um den Zürichsee gehen viele Kinder ins Gymnasium. Dort ähneln die Gemeinden dem Profil von Uitikon: exklusive Lage, grosszügige Wohnflächen, hohe Quadratmeterpreise.
Im Norden der Stadt, dem ehemaligen Industriegürtel, schickt man die Kinder hingegen weniger ins Gymi. Schlieren, Dietikon, Opfikon, Regensdorf: Der Wechsel an die Mittelschule ist dort die grosse Ausnahme. Die Sozialhilfe- wie auch die Ausländerquote liegen über dem kantonalen Schnitt.
Der Dietiker Leiter Bildung Pier Antonio Chalfajew sagt: «An der Goldküste sind die Lehrpersonen in der 6. Klasse extrem unter Druck bezüglich Gymi-Quote. Da drohen die Eltern bei schlechten Vornoten schnell mit dem Anwalt. Bei uns ist das nicht so. Unsere Kinder müssen sich, mithilfe ihrer Lehrpersonen, gute Vornoten erarbeiten.»
Über den ganzen Kanton gesehen schaffen 15,9 Prozent der Primarschüler den Übertritt, also etwa jeder und jede sechste. Das heisst: Wäre die Gymi-Quote überall gleich – könnten also die Schulgemeinden einen fixen Prozentsatz ans Gymnasium schicken –, dann könnte Uitikon weniger als halb so viele schicken wie bisher, Dietikon dagegen mehr als drei Mal so viele.
Irrtum 2: Man kann ja auch später ins Gymi – spätestens da gleichen sich die Unterschiede aus
Wer es nach der Primarschule nicht ins Gymi schafft, kann es später nochmals versuchen: Nach der 2. und der 3. Sekundarklasse ist der Übertritt ins Kurzzeitgymnasium möglich. Die ideale Gelegenheit, um die Unterschiede zwischen den Gemeinden aufzuwiegen – würde man meinen.
Das Gegenteil ist der Fall: Wo die Gymi-Quote nach der Primarschule hoch ist, ist sie es in der Regel auch nach der Sek.
In Spitzengemeinden wie Uitikon oder Erlenbach am rechten Zürichseeufer wechselt fast ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nach der 2. Sekundarschule an die Mittelschule. Im kantonalen Schnitt ist es dagegen nur ein Zwanzigstel. Ganze Gebiete – vor allem auf dem Land – sind nach der Sekundarschule richtiggehende Gymi-Wüsten. Wer es dort nach der 6. Primarklasse nicht getan hat, wechselt auch später kaum mehr.
In Dietikon tut dies nach der 2. Sekundarklasse gerade einmal ein Prozent der Jugendlichen. Viele gute Schüler legten zwar die Prüfung ab, bestünden sie oftmals gar, gingen danach aber nicht ins Gymi, sondern in die Berufsmittelschule, sagt der Leiter Bildung Chalfajew. «Sie sind schulmüde, können sich ein späteres Studium nicht vorstellen – oder trauen es sich schlicht nicht zu.»
An den meisten Orten gilt: Liegt die Quote des Übertritts aus der Primarschule unter dem kantonalen Durchschnitt, so tut sie das auch nach der Sekundarschule. Nur in 31 der 160 Zürcher Gemeinden trifft eine unterdurchschnittliche Primar- auf eine überdurchschnittliche Quote nach der 2. Sekundarklasse.
Orte mit vielen Gymi-Spätzündern sind also die Ausnahme. Sie sind grösstenteils ländlich – etwa Turbenthal im Tösstal. Es gehören aber auch Winterthurer Agglomerationsgemeinden wie Seuzach dazu.
Die weitgehende Übereinstimmung bei den Quoten des Gymi-Übertritts widerspricht einer unter Bildungsexperten verbreiteten Überzeugung: dass bei einer späteren Selektion die Herkunft eine weniger starke Rolle spielt. Und dass die Möglichkeit zum späteren Übertritt ins Gymnasium vor allem von jenen genutzt wird, denen zuvor die Möglichkeiten fehlten.
Das Gegenteil scheint in Zürich der Fall zu sein: Der Gymi-Eintritt nach der Sekundarschule wird vor allem dort genutzt, wo schon nach der Primarschule viele an eine Mittelschule wechseln.
Irrtum 3: Es sind kulturelle und nicht ökonomische Faktoren, die diese Unterschiede am besten erklären
Liegt es an mangelnden Fähigkeiten? An der Motivation? Oder an den fehlenden Mitteln?
Warum aus manchen Gemeinden so wenige und aus anderen so viele ans Gymnasium gehen, lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen. Klar scheint jedoch: An kulturellen Faktoren allein liegt es nicht. Das zeigt sich, wenn man die Ausländerquote mit der Übertrittsquote vergleicht. Man könnte vermuten, dass Schulgemeinden mit vielen Ausländern eher Gymi-Wüsten sind – wegen Sprachbarrieren, Unkenntnis des Schulsystems oder eines hohen Privatschulanteils.
Doch das ist nicht der Fall: Zwischen Ausländer- und Übertrittsquote gibt es kaum einen Zusammenhang. Dasselbe gilt für den Anteil Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist: Auch dort gibt es kaum eine Korrelation mit der Gymi-Quote.
Anders sieht es aus, wenn man sich die ökonomischen Verhältnisse in den Gemeinden anschaut.
Dort zeigen die kantonalen Daten klar: Je grösser der Anteil an Geringverdienern, desto tiefer ist in einer Schulgemeinde auch die Gymi-Quote – nach der Primar- ebenso wie nach der Sekundarschule.
In Uitikon, dem Gymi-Paradies, verdienen nur 16 Prozent der Einwohner weniger als der durchschnittliche Zürcher; die meisten Prüflinge besuchen private Vorbereitungskurse. In Dietikon, der Gymi-Wüste, sind 75 Prozent Geringverdiener; kaum jemand leistet sich private Nachhilfestunden.
Ein ähnliches Muster zeigt sich, wenn man die Steuerkraft pro Kopf oder das durchschnittliche steuerbare Einkommen betrachtet: Je reicher eine Gemeinde ist, desto mehr Kinder schaffen es von dort ans Gymnasium.
Das deckt sich mit landesweiten Daten des Bundesamts für Statistik zur sozialen Mobilität in der Schweiz. Demnach hat der Bildungshintergrund der Eltern – der wiederum eng mit der Höhe ihres Einkommens zusammenhängt – einen starken Einfluss auf den Bildungsweg der Kinder.
Die Uitikoner Schulpräsidentin Caroline Čada sagt es so: «Allen Bemühungen der Volksschule zum Trotz ist es entscheidend, was in der Familie passiert, ob etwa der Wille und die finanziellen Mittel für private Nachhilfe da sind.»
Irrtum 4: Mit den vielen Land-Gymnasien spielt die Distanz keine Rolle mehr
Lange waren die Zürcher Gymnasien auf die Städte Zürich und Winterthur konzentriert, doch vor siebzig Jahren begann sich das zu ändern: 1955 entstand in Wetzikon das erste Land-Gymi, in den 1970ern folgten drei weitere in Bülach, Uster und Urdorf. 2018 und 2020 kamen die Kantonsschulen in Uetikon am See und Wädenswil dazu.
Der Stadt-Land-Graben im Gymi-Zugang ist damit aber höchstens teilweise zugeschüttet.
Noch immer ist in den städtischen Bezirken des Kantons und in den reichen Vororten die Übertrittsquote deutlich höher als in den ländlichen Bezirken. So wechseln etwa in der Stadt Zürich und im Goldküsten-Bezirk Meilen rund drei Mal mehr Kinder ins Langzeitgymnasium als im Bezirk Andelfingen im Norden des Kantons.
Nach der Sekundarschule sind die Unterschiede noch grösser. Dann gehen vor allem in den Zürichseegemeinden viele ins Gymi – vier Mal so viele wie in den eher abgelegenen Bezirken Dielsdorf und Andelfingen.
Eine zentrale Rolle scheint dabei auch die Distanz zum nächsten Gymnasium zu spielen. Die Daten des Kantons zeigen: Je weiter das nächste Gymi von einer Gemeinde entfernt ist, desto weniger Kinder schaffen den Übertritt. Beim Langgymnasium ist der Effekt besonders deutlich. Ist ein Gymi in der eigenen Gemeinde, geht jeder fünfte Schüler an eine höhere Schule, ist es im Nachbarort, jeder siebte – und bei weiteren Distanzen jeder achte.
Beim Übertritt nach der Sekundarschule sind die Unterschiede weniger deutlich. Dann scheint die Distanz eine weniger grosse Rolle zu spielen.
Unklar bleibt beim Zusammenhang zwischen Distanz und Gymi-Besuch zudem, was Huhn und was Ei ist: Verhindern lange Wege den Übertritt? Werden die Gymnasien einfach dort gebaut, wo die Nachfrage hoch ist? Oder verstärken sich die beiden Faktoren gegenseitig?
Klar ist, dass die Zürcher Gymnasien auch nach der Expansion aufs Land noch immer ungleich auf den Kanton verteilt sind, nämlich konzentriert auf die grossen Städte und das Gebiet rund um den Zürichsee. Also auf die einkommensstarken Gegenden mit vielen Akademikern.
Zurück nach Uitikon und Dietikon, das Gymi-Paradies und die Gymi-Wüste. Dort wird auch nach der Prüfung von Montag der Zugang zur Mittelschule sehr ungleich bleiben.
Doch den Dietiker Leiter Bildung Pier Antonio Chalfajew deprimiert das nicht. «Ich kenne das Problem aus eigener Erfahrung», sagt er. «Mein Vater war Giesser, meine Mutter Fabrikarbeiterin, beide fremdsprachig. Sie konnten mir in der Schule nur bedingt helfen.»
Und doch, sagt Chalfajew, habe er es geschafft.
Er hat als Kind gute Noten, hätte zweimal an die Gymi-Prüfung gehen können. Doch er tut es nicht. «Ich war auf mich allein gestellt, mir hat die Selbstsicherheit gefehlt.» Aber er macht eine KV-Lehre, bildet sich weiter, holt als Erwachsener die Matura nach. Er wird Lehrer, dann Lehrlingsbeauftragter bei der Credit Suisse und schliesslich Leiter der Dietiker Schulen. Dank der Durchlässigkeit des dualen Bildungssystems.
«Wenn man will, kann man es nach oben schaffen», sagt er. «Es braucht einfach mehr Zeit und viel mehr Kraft.»
Mitarbeit: Eike Hoppmann