Seit seiner Studentenzeit ist Jean-Marie Le Pen gegen den Strom geschwommen und hat keinen Konflikt ausgelassen. Damit hat der Gründer des französischen Front national seine Partei immer wieder geschwächt und selbst seine Familie verprellt.
Eines hat Jean-Marie Le Pen in seinem Leben nie gescheut: die Konfrontation. Schon als Kind soll er regelmässig den Konflikt mit der Mutter provoziert haben, mit der er viel mehr Zeit verbrachte als mit dem Vater. Wie ein roter Faden ziehen sich dann die Provokationen durch die Biografie des französischen Rechtsaussen-Politikers und Mitbegründers des Front national (heute Rassemblement national, RN). Dass er sich dadurch vieles verbaute und regelmässig Verbündete gegen sich aufbrachte, ertrug er stets mit Stolz und Starrsinn – selbst wenn es sich dabei um Mitglieder seiner Familie handelte.
Wilde Studentenzeit
Dabei sind die Voraussetzungen für eine bescheidene, aber dennoch relativ sorglose Kindheit nicht schlecht, als Jean-Marie 1928 in La Trinité-sur-Mer in der südlichen Bretagne geboren wird. Sein Vater ist Hochseefischer, aber auch Gemeindepolitiker und Gewerkschafter und somit ein angesehener Mann in der kleinen Gemeinde. Seine Mutter verdient als Näherin dazu. Ihr einziger Sohn fällt in der Schule allerdings schon durch Streiche und schlechte Disziplin, später auch durch Handgreiflichkeiten auf, bevor das Familienleben aus dem Gleichgewicht gerät. Der Vater kommt 1942 ums Leben, als sein Fischerboot von einer Mine zerfetzt wird. Die finanziellen Umstände werden schwierig, die Witwenrente der Mutter ist bescheiden. Doch Jean-Marie kann als Kriegswaise eine Jesuitenschule besuchen: ein Titel, der ihm das Gefühl gab, französischer zu sein als andere, wie er später sagen wird. Nach dem Gymnasium schreibt er sich für ein Studium der Rechtswissenschaften in der Hauptstadt ein – kein Herzenswunsch, sondern eine Entscheidung aus Pragmatismus.
Das Studium sollte lange dauern und war durchzogen von mehreren wiederholten Prüfungen und finanziellen Schwierigkeiten. Denn das studentische (Nacht-)Leben wird für Le Pen rasch wichtiger als das Studium selbst: Die Verbindung der Fakultät bietet ihm dazu die Gelegenheit. Sie ist eine der wenigen, die sich im studentischen Nachkriegs-Paris dem dominanten kommunistischen Einfluss entzieht. Das gefällt dem jungen Bretonen – weniger aus ideologischen Gründen denn aus seiner Lust, sich gegen die vorherrschende Mehrheitsmeinung zu stellen. Bald wird er Präsident der Verbindung. «Ein Kampf schien ihm noch reizvoller, wenn er aussichtslos erschien», hält der Journalist David Mons in einer Biografie fest. Und: Ideologie oder Theorie seien nicht Le Pens Antrieb gewesen, um in die Politik zu gehen. Eher sammelt er die Argumente für die Positionen, die er später als Chef des Front national je nach Opportunität vertritt, entlang seines Werdegangs ein.
Er führt ihn nach der Universität zunächst an die Kriegsfront. Sein ausgeprägter Patriotismus und das Ideal eines starken Frankreichs treiben Le Pen dazu, sich als Fallschirmspringer nach Vietnam schicken zu lassen. Für den Ruhm kommt er jedoch zu spät; die Franzosen haben die entscheidende Schlacht bei Dien Bien Phu bereits verloren. Die Beziehungen, die Le Pen in Südostasien knüpft, bringen ihn nach seiner Rückkehr aber zu seinem ersten politischen Amt: als Parlamentsabgeordneter der Partei von Pierre Poujade, der sich in populistischer Manier für die Interessen von Kleinhändlern gegenüber dem «Blutsauger-Staat» einsetzt. Poujade, im Zweiten Weltkrieg ein Anhänger des Vichy-Regimes, hatte den jungen Le Pen gefördert und war von dessen rhetorischem Talent beeindruckt. Doch als dieser die Nähe mit den einstigen Nazi-Kollaborateuren sucht, mit denen er gebrochen hatte, wird es Poujade zu bunt.
Es kommt, wie bereits bei der Studentenverbindung geschehen und wie es noch unzählige Male der Fall sein wird, zum Bruch. Le Pen geht zurück in den Krieg, diesmal zu den Fallschirmspringern in Algerien. Die Entlassung des Landes in die Unabhängigkeit verstärkt Le Pens Ablehnung gegenüber Präsident Charles de Gaulle: Schon als «résistant» empfindet Le Pen den späteren Präsidenten als arrogant, weit vom Volk entfernt und zu nah an den Kommunisten.
Der Vorwurf, Algerien leichtfertig in die Unabhängigkeit entlassen zu haben, wird zum Schwerpunkt des Wahlprogramms des früheren Vichy-Beamten und bekannten Anwalts Jean-Louis Tixier-Vignancour, der 1965 gegen de Gaulle ins Rennen um die Präsidentschaft einsteigt. Jean-Marie Le Pen wird dessen Kampagnenleiter. In dieser Zeit verliert er wegen einer Netzhautablösung sein linkes Auge; die schwarze Augenklappe wird später eine Zeitlang sein Markenzeichen sein. Auch wenn sich die Wege nach der deutlichen Niederlage trennen, so empfiehlt sich Le Pen mit diesem Engagement für jene Gruppe von Vichy- sowie Algerien-Nostalgikern, Nationalisten, Neofaschisten sowie rechtsextremen Studentenvereinigungen, die Anfang der 1970er Jahre versuchen, ihre Kräfte zu bündeln. Sie fragen Le Pen an, ob er einer von drei Präsidenten einer Partei namens Front national (FN) werden wolle.
Le Pen hatte nach der Niederlage mit Tixier-Vignancour vor allem dem Pariser Nachtleben gefrönt und mit seiner ersten Frau eine dritte Tochter, Marine, bekommen. Der Plattenverlag, den er gegründet hatte, läuft mässig. Nach kurzem Zögern sagt er zu. Zu einem Wahlerfolg kann er die Partei allerdings auch nicht führen. Aber die Partei führt ihn zu seinem Lebenszweck. Nach und nach entledigt er sich seiner Konkurrenten und macht den FN zur Familienangelegenheit. Seine älteste Tochter Marie-Caroline ist die Erste, die sich 1975 an seiner Seite engagiert; sie heiratet einen Parteikader, ihre beiden Schwestern werden es ihr gleichtun. Der gemeinsame Wohnsitz der Familien, eine geerbte Industriellen-Villa im Südwesten von Paris, wird zur Parteizentrale und Ort berüchtigter, feuchtfröhlicher Partys.
Eine Partei auf der Achterbahn
Einen ersten Erfolg mit nationaler Sichtbarkeit kann der FN in den 1980er Jahren feiern, als die Partei und damit auch Vater Le Pen ins Europaparlament einzieht. Erst da hatte er das Thema Immigration – in Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit nach der Ölkrise – in sein Programm aufgenommen. Dank Einführung der Proporzwahl schaffen es die Le-Penisten schliesslich 1986 auch in die grosse Kammer des französischen Parlaments. In die Zeit der ersten Erfolge fallen auch die ersten antisemitischen Äusserungen des Präsidenten. Sie gefallen nicht allen in der Partei.
Denn bereits in den 1990er Jahren versucht nämlich ein Generalsekretär, was der Tochter Marine später gelingen wird: die Positionen des FN derart zu mässigen, dass sie eine breitere Wählerschaft ansprechen. Doch der cholerische Patron torpediert diese Versuche nicht nur mit gezielten Provokationen in der Öffentlichkeit, die Klagen wegen Antisemitismus, Homophobie und Rassismus nach sich ziehen. Er riecht auch die Putschgelüste seiner Untergebenen, denen sich auch seine älteste Tochter angeschlossen hat; eine massive Reihe von Parteiaustritten sind die Folge, unter ihnen sind auch die beiden älteren Töchter.
Bis sich seine jüngste Tochter Marine mit ihrer «Entdiabolisierungsstrategie» durchsetzen kann und den Vater 2015 aus der Partei wirft, setzt sich deren Auf und Ab fort, begleitet von Geldproblemen und Skandalen. 2002 kann Jean-Marie immerhin seinen grössten Erfolg verbuchen, als er es bei den Präsidentschaftswahlen überraschend in die Stichwahl gegen Jacques Chirac schafft. Er hat im Schatten der Anschläge von 9/11 gezielt auf das Thema Sicherheit gesetzt. Doch nur zwei Jahre später droht die Partei in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Erst als Marine 2011 die Präsidentschaft des FN übernimmt, geht es wieder aufwärts.
So wie er die Kampfscheidung von seiner ersten Frau über den «Playboy» austrug, hat der Bruch mit seiner präferierten Tochter Marine nicht im Stillen stattgefunden. Er beleidigt sie öffentlich und beschuldigt sie, einen «politischen Mord» begangen zu haben. Gleichermassen hat er die «Versöhnung» mit seinen drei Töchtern anlässlich seines 90. Geburtstags zu einer People-Story inszeniert.
Nicht nur auf dem politischen Parkett ist es seit seinem Abschied aus dem Europaparlament 2019, wo er seit 1984 ununterbrochen sass, ruhig um ihn geworden. Seine jüngste Tochter Marine hat die Geschicke des Familienunternehmens fest in der Hand. Die Geldprobleme und -skandale ist die Partei zwar auch mit neuem Namen nicht losgeworden – sie sind der Grund, weshalb Marine Le Pen derzeit vor Gericht steht. Aber die Pöbeleien und Provokationen, die der frühere Patron als Markenzeichen prägte, sind passé. Das RN ist mit der Strategie der öffentlichen Mässigung, die Marine Le Pen verfolgt, zur grössten Oppositionspartei im französischen Parlament geworden.
Jean-Marie Le Pen hat die Entwicklung des RN in den letzten Jahren kaum mehr öffentlich kommentiert; eher hat er die distanzierte Beziehung zu seiner Tochter bedauert. In den Medien hiess es, er freue sich über deren Erfolg ebenso wie über die politische Karriere seiner Grossnichte Marion Maréchal. Mit seiner zweiten Frau lebte er zuletzt zurückgezogen im Südwesten der Hauptstadt. Im vergangenen November verbrachte er mehrere Wochen im Spital. Aus dem Umfeld seiner Familie hiess es, man sei besorgt. Am Dienstag ist Jean-Marie Le Pen im Alter von 96 Jahren gestorben.