Als Kontrapunkt zur Alpenkulisse kann in St. Moritz auch das düstere Werk des Avantgardisten Wols erlebt werden.
September 1982. Drei Männer kurven in einem Mercedes durch die Appenzeller Berge. Einer von ihnen zündet einen Joint an und reicht ihn herum. Es ist der Galerist Bruno Bischofberger, der dem Künstler Jean-Michel Basquiat und seinem Assistenten von dem Marihuana anbietet. Die drei fahren nach Basquiats erster Zürcher Einzelausstellung in Bischofbergers Galerie nach Appenzell, zu einem Jahrmarkt.
Völlig zugedröhnt kommen sie in Appenzell an, kaufen sich vierzig Jetons für den Autoscooter und legen sich euphorisch mit dem ganzen Dorf an. Danach geht es weiter nach St. Moritz, wo Basquiat in Bischofbergers Ferienhaus wohnt und arbeitet.
Ein New Yorker in den Alpen
In diesem Jahr wäre Jean-Michel Basquiat 65 Jahre alt geworden. Nun zeigt die Galerie Hauser & Wirth in St. Moritz rund dreissig seiner Werke, die einen besonderen Bezug zur Schweiz und vor allem zum Engadin haben.
Der Augenblick im Auto Richtung Appenzell wird im Begleitbuch zur Ausstellung geschildert, Basquiats Assistent erinnert sich noch gut daran. Es war das erste Mal, dass der amerikanische Künstler die Schweiz besuchte: 21 Jahre alt war er damals, ein aufstrebender Künstler aus dem lauten, bunten New York.
In der ruhigen Ostschweiz sah er erstmals die Alpen. Er war beeindruckt von der Landschaft und der Sprache. Später malte er «Bruno in Appenzell»: Das Auto mit Bischofberger drin, samt Krone und Autotelefon. Dahinter, auf einem rosafarbenen Grund, spitze schneebedeckte Berge und Tannenwälder.
Auf diesen ersten Aufenthalt in der Eidgenossenschaft folgten ein Dutzend weitere; sechs davon in St. Moritz. Wenige Jahre nach seiner ersten Reise in die Alpen, am 12. August 1988, starb Basquiat 27-jährig an einer Überdosis Heroin. Kein Land hat er in seinem kurzen Leben häufiger besucht, als die Schweiz.
Bilder fürs Ferienhaus
Für das Engadin ist Basquiat einer von vielen prominenten Gästen. Auch Friedrich Nietzsche, Marcel Proust, Gerhard Richter, Giovanni Segantini oder Alberto Giacometti kamen und fanden hier die Langsamkeit. Sie alle liessen sich von der Region inspirieren. Von der Geborgenheit der Bergtäler, vom besonderen, hellen Licht und von der magischen Stille.
Doch es kamen nicht nur Künstler ins Engadin, sondern immer mehr auch kaufkräftige Touristen. Bald eröffneten die ersten Galerien. So ist heute nicht nur St. Moritz, sondern das Engadin insgesamt auf engstem Raum ein Hotspot des internationalen Kunstmarkts geworden.
Die Feriengäste haben in den Bergen die nötige Ruhe und Zeit, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Fernab vom städtischen Trubel, von der Hektik des Alltags, treffen sie ihre Wahl. Hier oben kaufen sie Werke sowohl für ihre Ferienhäuser, als auch für ihre Sammlungen Daheim. Zeit für einen Besuch in den Engadiner Galerien.
Bratwurst, Skilift, Steinbock
Erster Stopp: Hauser & Wirth. Die Kunstgalerie steht neben den Modegeschäften von Giorgio Armani und Gucci, im Erdgeschoss gibt es eine schicke Bar.
Einige der hier ausgestellten Bilder von Basquiat entstanden in St. Moritz selbst. «See» zeigt den St. Moritzersee bei Nacht, unter dem Sternenhimmel, umgeben von Föhrenwald. Es wird erstmals seit bald vierzig Jahren ausgestellt. Der stille See und der klare Sternenhimmel beeindruckten Basquiat, der aus dem mit Smog überzogenen New York kam und in den Strassen von Brooklyn mit seinen Graffiti zum Künstler geworden war.
Seine Karriere als Maler dauerte nur sieben Jahre. In dieser Zeit aber schuf er 1000 Bilder, darunter 160 zusammen mit seinem Mentor Andy Warhol, und noch mehr Zeichnungen. Zur Serie der Bilder, die er 1983 in St. Moritz malte, gehört auch «Skifahrer», ein witziges Strichmännchen mit Ski auf rotem Grund, hinter ihm Bewegungsstriche wie bei einer Comicfigur. «Nachtleben» ist eine Aussicht auf weisse Berge, und «Alpendorf» zeigt ein Haus, umgeben von Tannen auf petrolgrünem Grund.
In der beschaulichen Schweiz versuchte Basquiat wie ein Kind zu malen. Ein Experiment, das schon Picasso inspiriert hat. Basquiat ging aber einen Schritt weiter und malt zusammen mit Bischofbergers vierjährigen Tochter Cora.
Basquiat saugte zudem alles auf, was er zu sehen bekam. Nach dem Besuch einer Viehschau in Neu St. Johann im Toggenburg malte er in einer einzigen Nacht eine vierteilige Serie mit Kühen und den Fladen, die diese hinterlassen. Und überall: die Bratwurst, als Wort und Bild. Hinzu kommen ganze Menukarten, inklusive Preisen, die Basquiat auf seinen Bildern verewigt hat: «Schafsvoressen», «Hackbratten», «Scwinis mit Kraut».
Auch Skilift und Steinbock wurden zu Motiven in Basquiats Werk, nicht nur bei seinen Besuchen in der Schweiz, sondern auch, wenn er in New York arbeitete.
Der Zwiespalt Basquiats
Basquiat wird 1960 in eine mittelständische Familie geboren, der es etwas besser geht als vielen anderen im heruntergekommenen Brooklyn. Der Vater stammt aus Haiti, die Grosseltern mütterlicherseits sind puerto-ricanische Einwanderer. Schon früh nimmt die Mutter den Sohn mit in Museen.
Nach der Trennung der Eltern lebt Basquiat bei seinem Vater, die Mutter hat psychische Probleme. Der Jugendliche macht Probleme, verschwindet von zu Hause und bricht die Schule ab. Er besprayt Wände, malt auf Türen und sogar Kühlschränken, legt als DJ auf und spielt in einer Band. Eines seiner zentralen Themen: der allgegenwärtige Rassismus in den USA.
Ein paar Jahre später fällt seine Graffitikunst in der von Weissen dominierten Kunstwelt auf: Er wird aufgenommen und schnell weltbekannt, seine Werke werden an der wichtigen Kunstschau Documenta gezeigt. Von nun an lebt er in einem Zwiespalt: zwischen dem Ruhm als erster erfolgreicher Schwarzer in der weissen Kunstszene und der demütigenden Rolle des Hofkünstlers einer weissen Kulturelite.
Seine Rassismuskritik zeigt sich etwa im Bild «Big Snow», wo die Engadiner Landschaft mit Bobbahn als Kulisse für Olympische Spiele gilt. Als Kontrast dazu dient der Kopf des schwarzen Athleten Jesse Owens, dessen Name auf der Leinwand steht, darunter der Schriftzug «Berlin 1936». Damals, an den Olympischen Spielen in Nazideutschland, gewann Owens vier Goldmedaillen.
Afrofuturismus in den Alpen
Zweiter Stopp: Robilant + Voena. Ein Pop-up in der Dorfkirche von St. Moritz, etwa hundert Meter entfernt von der prestigeträchtigen Institution Hauser & Wirth. Auch das bietet St. Moritz inzwischen.
Hier zeigen Galeristen aus Italien Bilder von Jordan Watson, einem New Yorker Künstler mit jamaicanischen Wurzeln, geboren 1979. Während ein Basquiat bis über 30 Millionen kostet, bekommt man einen Watson bereits ab mehreren zehntausend Franken.
Watson hat sich zuerst als Kurator einen Namen gemacht. Entstanden sind grosse Bilder mit Schneesportmotiven im Stil des Afrofuturismus: Schwarze Menschen fahren in einer knallig-farbigen Zukunft in den Bergen Ski oder gleiten mit Schlittschuhen über das Eis. Es sind ästhetische Werke, die jedoch beinahe kitschig wirken.
Wols illustrierte Sartres Bücher
Dritter Stopp: Karsten Greve. Ein paar Häuser von der Dorfkirche weg, an der edlen Via Maistra, steht die älteste internationale Galerie in St. Moritz. Karsten Greve eröffnete sie vor 25 Jahren. Gerade zeigt der deutsche Kunsthändler und Verleger den ebenfalls deutschen Avantgardekünstler Wols, 1913 geboren, der eigentlich Alfred Otto Wolfgang Schulze hiess. Seine Werke kosten oft mehr als hunderttausend Franken.
Es sind im Gegensatz zum knalligen Werk Basquiats und zu den modischen Bildern Watsons oftmals sehr düstere, dichte Werke, viele davon entstanden während des Zweiten Weltkriegs. Sie stehen in maximalem Kontrast zu der schneebedeckten Ferienkulisse.
Wols war nicht nur Maler, sondern auch Fotograf, Dichter und Musiker, er spielte Geige und Banjo. 1932 zog er nach Paris, weil er den Nationalsozialismus ablehnte. Dort lernte Wols viele bedeutende Persönlichkeiten kennen. Etwa den Existenzialisten Jean-Paul Sartre, der ihm ein enger Freund wurde. Sartre kam zwei Jahre lang für Wols’ Hotelzimmer in Paris auf, wo der Künstler meistens im Bett arbeitete. Im Gegenzug illustrierte Wols Sartres Bücher.
Kontrast zum Skitourismus
In Paris nahm Wols sich vorerst der Fotografie an, es folgten viele Zeichnungen, meist mit Tusche und Aquarell, inspiriert vom Surrealismus. Es sind feine Konstruktionen, die oftmals an Architekturzeichnungen erinnern, jeder Strich, jede Farbfläche scheint vorsichtig aufgetragen. Wols schrieb auch Aphorismen. Einer lautet: «Im Sehen soll man sich nicht darauf versteifen, was man aus dem, was man sieht, machen könnte. Man soll sehen, was ist.» Die Sätze passen zu Wols Rolle als Wegbereiter des Informel, der abstrakten Kunst der europäischen Nachkriegsjahre.
Bei Kriegsausbruch wurde er als unerwünschter Ausländer in verschiedene Internierungslager gebracht, zusammen mit anderen ausländischen Künstlern wie Max Ernst. Wols überlebte beide Weltkriege – und starb letztlich 1951 an einer Lebensmittelvergiftung im Alter von 38 Jahren.
Drinnen die finsteren Bilder, draussen die verschneiten Berge. Kunsttrunken können die Feriengäste nach dem Galeriebesuch wieder durchs beschauliche St. Moritz spazieren. Um die Ecke recken sich die Touristen auf der Terrasse einer Après-Ski-Bar in der Sonne, eingepackt in Pelz, das Gesicht verdeckt von übergrossen, glänzenden Sonnenbrillen. Vielleicht gibt es dort auch Bratwürste – oder sonst ein Gericht, das Basquiat gern gemalt hätte.
«Jean-Michel Basquiat. Engadin», Hauser & Wirth, St. Moritz, bis 29. März. «Wols», Galerie Karsten Greve, St. Moritz, bis 22. März. «Jordan Watson. Easier to Breathe», Robilant + Voena, Dorfkirche in St. Moritz, bis 6. März.