Die Demonstrationen an amerikanischen Universitäten haben sich rasant ausgebreitet. Sie drehen sich angeblich um die humanitäre Lage in Gaza, doch das ist zweifelhaft.
Für Aussenstehende mögen die Studentenunruhen überraschend über die USA hereingebrochen sein. Doch die Aktionen an der Columbia-Universität, von der die Proteste sich in den letzten zwei Wochen im ganzen Land ausbreiteten, waren von langer Hand geplant. Schon im Januar hielt die studentische Gruppe Columbia University Apartheid Divest auf dem Campus in New York eine Protestkundgebung ab. Die mit ihrem Namen an die Tradition von Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg und das Apartheidregime in Südafrika anknüpfende Organisation propagierte damals einen Streik der Lehrveranstaltungen und Proteste gegen den Gaza-Krieg.
Als die Präsidentin der Universität, Nemat Shafik, am 17. April vor dem Kongress auftreten musste, um die Haltung der Universität gegenüber antisemitischen Protesten zu erklären, schlug Columbia University Apartheid Divest mit anderen Organisationen zu. Zelte, Nahrungsmittel und alles Nötige für den Aufbau eines Protest-Camps, das in den Wochen zuvor angeschafft worden war, wurde plötzlich auf dem Campus aufgestellt.
Unmögliche Forderungen an die Universitätsleitung
Die Universitätsleitung war überrumpelt und aufgeschreckt. Die Präsidentinnen der Universitäten von Yale und Pennsylvania hatten sich wegen ihrer unklaren Haltung zu antisemitischen Protesten nach Auftritten im Kongress im Dezember zum Rücktritt gezwungen gesehen. Shafik entschloss sich dagegen zu raschem Eingreifen. Doch die von ihr auf den Campus gerufene Polizei, die 100 Demonstranten verhaftete, hat die Protestwelle nur angeheizt. In den folgenden Tagen griff sie auf Dutzende Universitäten über. Die «Washington Post» zählte bis am Montag landesweit mehr als 900 Verhaftungen.
Die Organisatoren der Proteste setzten auf maximale Konfrontation mit der Universitätsleitung – und auf maximale Aufmerksamkeit. Sie haben dieses Ziel erreicht. Aber was sonst?
Die Kernforderung, die von zahlreichen studentischen Organisationen geteilt wird, ist der Verzicht der Universitäten, ihre oft riesigen Stiftungsvermögen teilweise in Waffenproduzenten zu investieren. Hinzu kommt die Forderung nach einem Investitionsverzicht bei Firmen, die eine Verbindung zu Israel haben. Damit soll angeblich ein Zeichen für Frieden und gegen den Krieg in Gaza gesetzt werden, dem seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober über 30 000 Personen zum Opfer gefallen sind.
Antisemitismus als Teil des Programms
Ein Verzicht auf Investitionen in Waffen mag aus Sicht von Pazifisten nachvollziehbar sein. Gleiches gilt für den Boykott israelischer Firmen allerdings nicht. Die allermeisten von ihnen haben nichts mit Waffen oder dem Gaza-Krieg zu tun. Ein solcher Boykottaufruf soll offenkundig Israel als Nation treffen – er geht somit nahtlos in antisemitische Agitation über. Selbst wenn ein Teil der Initiatoren ehrliche pazifistische Ziele verfolgt, war klar, dass dieser Aufruf antisemitische Sympathisanten anziehen musste – was sogleich manifest wurde auf dem Campus.
Ein Beispiel ist der 20-jährige Student Khymani James, der am vergangenen Freitag von der Columbia-Universität suspendiert wurde und den Campus nicht mehr betreten darf. James hatte im Januar als Exponent der Protestbewegung Zionisten mit Nazis gleichgestellt und erklärt, er bekämpfe sie nicht mit dem Ziel zu gewinnen, sondern sie zu töten.
Die studentischen Organisatoren des Protests distanzierten sich zwar von James. Doch das ändert nichts daran, dass sie einen Finanzboykott gegen Israel propagieren. Für die Universitätsleitung ist das inakzeptabel; sie kann sich unmöglich an einer antisemitischen Aktion beteiligen.
Der Nahostkonflikt dient als Bühne für politische Spiele
Selbst Präsident Joe Biden bringt es nur mit grösster Mühe und begrenztem Erfolg zustande, die Regierung Israels zu einem Vorgehen gegen die Terrororganisation Hamas zu bewegen, das grössere Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt. Die Aktionen wohlsituierter Studenten in den Vereinigten Staaten haben keinen zählbaren Effekt auf die humanitäre Lage in Gaza. Der Nahostkonflikt ist, wie so oft, ein Instrument für ganz andere politische Ziele.
In arabischen Staaten wie Ägypten oder Jordanien kippen Solidaritätskundgebungen leicht in Proteste gegen die eigenen autokratischen Regierungen – und werden von diesen rasch eingedämmt. An der Columbia dienen sie offenkundig dem Protest gegen die Universitätsleitung, gegen die amerikanische Regierung oder schlicht dem Zweck der Selbstverwirklichung.
Das mag manchen Protestierenden wie ein Spiel zum Ausklingen des Semesters vorkommen, doch die Folgen sind ernst. An erster Stelle für jene jüdischen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die sich wegen antisemitischer Hetze nicht mehr auf den Campus getrauen. Dann für das weitere Umfeld der Politik; zahlreiche Politiker haben die Proteste bereits als Bühne zur eigenen Profilierung durch polarisierende Auftritte genutzt. Und schliesslich schaden sie den Universitäten, deren Rolle als Hort freier Meinungsäusserung infrage gestellt wird.
Die Proteste haben viele Verlierer und kaum Gewinner. Fernab der Tumulte in den amerikanischen Elfenbeintürmen geraten die Menschen in Gaza dabei leicht in Vergessenheit. Angeblich dreht sich alles um sie – doch in ihrem Alltag merken sie nichts davon.