Wie geht es Europa? Es sei im Überlebensmodus, sagt Ivan Krastev. Im Gespräch mit Andreas Ernst und Daniel Steinvorth erörtert der bulgarische Politologe, weshalb es jetzt auf den politischen Willen der Europäer ankommt.
Herr Krastev, «Europa ist sterblich», hat der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an der Sorbonne gesagt. Hat er recht, oder dramatisiert er?
Beides. Er hat recht in dem Sinne, dass sich die Dinge radikaler verändern können, als wir denken. Und er dramatisiert, um auf die Schnelligkeit des Wandels aufmerksam zu machen. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staatslenkern versteht es Macron sehr gut, das grosse Ganze im Auge zu behalten. Allerdings werden wir gerade von allen Seiten mit apokalyptischen Weltsichten konfrontiert. Klimaaktivisten sagen, dass es bald kein menschliches Leben mehr auf dem Planeten gebe. Völkische Rechte glauben, dass mit dem «grossen Bevölkerungsaustausch» unsere Lebensweise ausgelöscht werde. Es stimmt schon: Europa ist im Überlebensmodus. Ich fürchte aber, dass wir die Leute in eine Schockstarre versetzen, wenn wir ihnen ständig erzählen, dass die Probleme jetzt gelöst werden müssten, weil sie sonst nie gelöst würden.
Welche Worte fallen Ihnen ein, um Europas Zustand zu beschreiben?
Europa steckt in einem Schwindelmoment. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat einmal gesagt, dass Schwindel nicht die Angst vor dem Fallen sei. Schwindel ist der Wunsch zu fallen, gegen den wir uns aber in unserer Angst wehren.
Weil wir nicht mehr Schritt halten können mit den Veränderungen?
Es geht hier um eine Erfahrung, die den Osteuropäern meiner Generation sehr vertraut ist. Wer in den späten 1980er Jahren in Bulgarien lebte, der sah ein System in der Krise, konnte aber glauben, dass der Kommunismus noch Jahrzehnte überdauern würde. Doch dann veränderten sich die Dinge so schnell, dass man am Freitag nicht mehr glaubte, wovon man am Montag noch überzeugt gewesen war. Die Westeuropäer haben auch Veränderungen erfahren, aber über lange Zeiträume, die Geschwindigkeit war eine ganz andere. Heute verändert sich unsere Welt rapide.
Was meinen Sie konkret?
Die Idee eines anhaltenden Friedens in Europa ist geplatzt. Wir realisieren, dass wir in einer Vorkriegszeit leben. Alle wichtigen Annahmen, auf denen unsere Sicherheit beruhte, gelten nicht mehr. Eine lautete: Gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit bedeutet Frieden. Heute wissen wir, dass Abhängigkeit zur politischen Waffe werden kann – Stichwort russisches Erdgas. Europa hatte sich selbst davon überzeugt, dass militärische Macht keine Rolle mehr spiele. Warum? Weil wir Amerikas Sicherheitsgarantien für selbstverständlich hinnahmen. Doch das ist nicht mehr der Fall. Oder nehmen Sie den Nationalismus: Wir hielten ihn für einen Geist der Vergangenheit. Heute sehen wir, dass es die Kraft des Nationalismus war, die den Ukrainern geholfen hat, sich so lange gegen die Russen zu wehren.
Glauben Sie, dass Putin nach der Ukraine einen Krieg in der Moldau anzettelt und dann als Nächstes die baltischen Länder ins Visier nimmt? Gilt wieder die Dominotheorie aus dem Kalten Krieg?
Nun, wir wissen nicht, was die Russen tun werden, und die Russen wissen es wahrscheinlich selber nicht. Zurzeit steigen die Spannungen zwischen Moskau und dem Westen. Macron denkt laut über den Einsatz von Bodentruppen nach, Putin kündigt Atomtests an. Die Ängste in Europa sind sehr unterschiedlich: Deutsche und Franzosen fürchten sich vor dem Atomkrieg, Polen und Balten, dass ihre Länder besetzt werden. Die Gründe dafür liegen in der jeweiligen Geschichte. Die EU wurde zu einem grossen Teil von ehemaligen Kolonialmächten gegründet. Die meisten Staaten in Osteuropa hingegen entstanden aus dem Zerfall kontinentaler Imperien. Sie können ihre Existenz nicht als selbstverständlich hinnehmen. Ein Land wie Polen wurde zu oft geteilt, verschwand zu oft von der Landkarte, als dass es seine Vernichtung durch einen Eroberungskrieg ausschliessen könnte.
Und Putin? Was treibt ihn an?
Ich denke nicht, dass es ihm um die Wiederherstellung der Sowjetunion geht. Er versucht vielmehr, die russische Nation neu zu definieren. Der Krieg in der Ukraine wird auch von der demografischen Entwicklung angetrieben, das heisst vom schnellen Bevölkerungsschwund in Russland. Mich erinnert das an die sogenannten Morgenkriege der amerikanischen Ureinwohner im 17. Jahrhundert. Damals griff ein Stamm den anderen an, weil er nicht mehr genügend Leute hatte und deshalb die Frauen und Kinder des anderen Stammes entführte. Für Putin sollen die Ukrainer zu Russen werden.
Was ist mit den Amerikanern, sind wir militärisch hilflos ohne sie?
Europa mag aufgewacht sein. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Aufwachen und Aufstehen. Die Europäer – abgesehen von den Ex-Jugoslawen – leben seit zwei Generationen ohne den Krieg. Uniformträger sind in einem Land wie Deutschland nicht gerne gesehen. Die Amerikaner hingegen sind es leid, überall endlose Kriege zu führen. Sie sagen den Europäern: Hört mal, ihr seid gross genug, ihr seid reich genug, erledigt diesen Job selber! Zudem hat sich die amerikanische Gesellschaft rapide verändert: Es gibt inzwischen viel mehr Amerikaner, die aus nichteuropäischen Ländern stammen, und das verändert die Beziehung des Landes zu Europa. Die Bindungen sind nicht mehr so stark.
Gut. Aber schaffen es die Europäer, sich selbst zu verteidigen?
Wenn sie die Lage klar erkennen, sehe ich nicht, weshalb es ihnen nicht möglich sein sollte. Wir halten viele Dinge für unmöglich, nur weil wir zu faul sind, sie zu tun. Als Putin seinen Angriff begann, glaubten viele, dass die Ukraine nicht länger als sechs Wochen überleben könne. Es ist am Ende eine Frage des Willens.
Die Frage von Krieg und Frieden wird auch bei den Europawahlen eine Rolle spielen. Viele Europäer möchten ihre Ruhe haben, sich vielleicht mit Russland arrangieren. Wie schauen Sie auf die Wahlen?
Es gibt da zwei Grundstimmungen: Angst und Furcht. Furcht bezieht sich auf eine konkrete Bedrohung und mobilisiert. Angst ist diffus und lähmt eher. Als die Menschen sich vor dem Coronavirus fürchteten, unterstützten sie ihre Regierungen, denen sie ein vernünftiges Abwehrkonzept zutrauten. Wenn sich aber viele Bedrohungen und Risiken vermischen, Klimawandel, Inflation, Migration, dann resultiert daraus Angst, die der extremen Rechten nützt. Aber die Rechte ist keine Einheitsfront. Sie ist gespalten, etwa in der Haltung gegenüber Russland, wie man an der EU-feindlichen AfD und den Fratelli d’Italia mit ihrer Westbindung sieht.
Geht es überhaupt um Europa?
Die kommende Wahl ist die europäischste seit langem. Natürlich spielen nationale Befindlichkeiten weiterhin eine zentrale Rolle. Aber 2024 wissen die Bürger, dass es wirklich darauf ankommt, wohin Europa sich bewegt. Das ist vor allem eine Folge des Krieges in der Ukraine. Er führt dazu, dass die nationale und die europäische Ebene ständig miteinander kommunizieren. Was die politischen Massnahmen und Instrumente betrifft, ist Europa stärker integriert denn je. Aber gleichzeitig sind von Land zu Land die Einstellungen und Gefühle gegenüber dem Krieg sehr verschieden. Denn der Krieg hat die Geschichte zurückgebracht, und die ist national codiert.
Welche Themen werden entscheidend sein?
Um eine sehr schweizerische Antwort zu geben: Das ist von Kanton zu Kanton verschieden. In Deutschland wird es die Migration sein, während die Italiener bei diesem Thema viel entspannter geworden sind. Obwohl Meloni wegen der Migration an die Macht kam und sich die Zahl der illegalen Grenzübertritte seither vervielfacht hat! Das Klima ist in Südeuropa ein Thema, wie wir aus den Umfragen wissen, aber nicht so in Ostmitteleuropa. In Rumänien oder Spanien haben die Leute sogar noch mit dem Erbe der Pandemie zu kämpfen. Die Menschen sind zunehmend überzeugt, dass Europa auf keinem guten Weg ist. Aber sie unterscheiden kaum noch zwischen der nationalen und der europäischen Ebene. Der Euroskeptizismus hat sich verändert. Skepsis ist nicht mehr der Zweifel an den Fähigkeiten der EU, sondern das grundsätzliche Gefühl, durch herkömmliche Politik nichts mehr erreichen zu können.
Europa durchlief in den letzten Jahren eine Serie von Krisen: die Euro-Krise, die Pandemie und jetzt der Krieg in der Ukraine. Offensichtlich spielt bei deren Bewältigung die EU die Hauptrolle – obwohl sie kein Staatsvolk hat. Ist das ein Problem?
Falls es ein Problem ist, dann noch auf lange Sicht. Wir haben keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Geschichte – wir werden von Übersetzern regiert. Was uns durch diese Krisen bringt, ist die Tatsache, dass die EU jedes Mal neue Instrumente kreiert: die gemeinsamen Schulden in der Pandemie, die Peace-Facility zur Unterstützung der Ukraine. Das ist die neue Realität, und sie wird von den Bürgern im Grossen und Ganzen akzeptiert.
Kann man sagen, dass diese Krisen dann eben doch eine Art europäische Öffentlichkeit schaffen?
Ja, die Krise führt dazu, dass wir wissen wollen, wie es die andern machen. In der Corona-Pandemie haben alle Europäer die Fallzahlen, die Impfraten und die Massnahmen in den Ländern verglichen und diskutiert. Jetzt passiert das mit der Hilfe für die Ukraine. Wer gibt was und wie viel? Die Befürworter der EU und ihre Gegner wissen heute ganz genau, dass sie alle im gleichen Boot sitzen. Nur nennen es die einen die «Titanic», und für die andern ist es eine Arche Noah.
Die Osterweiterung vor zwanzig Jahren war ein Erfolg für die EU. Lässt er sich wiederholen, wenn es um die Integration der Ukraine, der Moldau und des Westbalkans geht?
Ich glaube, der Begriff der Erweiterung führt in die Irre. Diese Länder im Osten und im Südosten können nicht auf dieselbe Weise integriert werden wie damals Tschechien oder Polen. Wir sehen jetzt gleichzeitig Integration und Desintegration. Die Ukraine ist teilweise schon jetzt voll integriert. Bezüglich Personenfreizügigkeit oder Arbeitsmarkt hat sie Rechte wie ein Mitgliedstaat, in anderen Bereichen ist sie gar nicht angebunden. Erweiterung heisst künftig etwas anderes als bisher. Es geht darum, dass die EU ihren geopolitischen Raum schützt und die Grenzen befestigt. Grossbritannien, das ausgetreten ist, wird sicherheitspolitisch wieder an die EU heranrücken. Es wird also ein sehr differenzierter Erweiterungsprozess stattfinden, es geht eher um eine Art Expansion. Und noch etwas ist anders. Bei der grossen Osterweiterung von 2004 mussten sich vor allem die Beitrittskandidaten verändern, sie mussten die neuen Regeln übernehmen und sich anpassen. Die bevorstehende Erweiterung aber wird die Länder im Zentrum, Frankreich, Deutschland, ebenso stark verändern wie jene, die neu dazukommen.