Trotz der desaströsen TV-Debatte stützen führende Demokraten weiterhin Präsident Bidens Kandidatur. Die frühere US-Botschafterin in Bern, Suzi LeVine, gehört zu ihnen. Im Interview erklärt sie, wieso.
Frau LeVine, Sie haben die TV-Debatte, über die momentan alle sprechen, in Atlanta mitverfolgt, an einem Viewing-Event der Biden-Kampagne. Wie war die Stimmung?
Grundsätzlich blendend. Die führenden Leute der Biden-Kampagne informierten vor der Debatte über den Wahlkampf, und ich war beeindruckt, wie gut sie die Wähler in den umkämpften Staaten erreichen. Sie sind besser vorbereitet und finanziell besser ausgestattet, als es jemals ein Wahlkampfteam war. Ich unterstütze Joe voll und ganz. Natürlich war seine Leistung an der Debatte enttäuschend, aber Trump war einfach entsetzlich. Und je länger die Debatte dauerte, desto mehr geriet Trump aus den Fugen.
Aber Joe Biden wirkte absent, und was er sagte, ergab oft kaum Sinn. Das Echo nach der Debatte war katastrophal. Immer mehr Stimmen verlangen, dass er aus dem Rennen steigt. Machen Sie sich denn keine Sorgen wegen seines Alters?
Er ist alt, ich streite das nicht ab. Aber er ist auch unglaublich kompetent und macht eine grossartige Arbeit als Präsident, und er hat weiterhin eine aussergewöhnliche Vitalität. Das konnte man am nächsten Tag bei seinem Auftritt in North Carolina sehen oder an seiner Kongressansprache im März zum Zustand der Nation. Diesen Joe Biden wollen wir sehen. Ich hatte mehrmals die Gelegenheit, ihn zu treffen. Seine geistige Schärfe ist gross. Aufgrund seiner Erfahrung und seiner guten Beziehungen hat er mehr erreicht als jeder Präsident seit Roosevelt. Wissen Sie: Nicht jeder, der schreit, erreicht viel. Manchmal braucht es jemanden, der ruhig und bedacht hinter den Kulissen agiert.
Biden ist inzwischen 81 Jahre alt und kandidiert für vier weitere Jahre. Warum ist er der richtige Kandidat? Es gibt doch viele andere politische Talente in der Demokratischen Partei.
Zum einen hat er 2020 schon einmal gegen Trump gewonnen. Und mit ihm an der Spitze sind die Demokraten gut gefahren. Sie haben Sitze in Parlamenten gewonnen und Abstimmungen in Gliedstaaten. Die Republikaner hingegen enttäuschten in den Zwischenwahlen und verloren wichtige Gouverneurswahlen. Ich schaue mir das tatsächliche Abstimmungsverhalten an, nicht das hypothetische in Umfragen. Wir müssen schliesslich nicht die «New York Times» überzeugen, sondern zwischen 35 000 und 50 000 Wähler in den umkämpften Staaten. Denn es wird wieder ein unglaublich knappes Rennen werden. Es geht um jede einzelne Stimme, auch derjenigen von Bürgerinnen und Bürgern der USA, die im Ausland leben.
Inzwischen halten 59 Prozent der demokratischen Wähler Joe Biden für zu alt für eine zweite Amtszeit. Das können Sie doch nicht ausblenden?
Ich leugne nicht, dass das ein Problem ist. Aber der Präsident entscheidet, ob er kandidiert. Umfragen sind immer bloss eine Momentaufnahme. Im Grunde genommen zeigen sie einfach, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen ist. Ausserdem sind die mehreren zehntausend Wähler, die diese Wahl in den Swing States entscheiden werden, im Moment noch nicht wirklich aufmerksam. Sie haben die Debatte höchstwahrscheinlich gar nicht gesehen. Viel wichtiger ist es, dass wir diesen Wählern verständlich machen, dass es hier nicht um ein Referendum gegen Joe Biden geht, sondern um eine Wahl zwischen der Demokratie und dem Faschismus und der Autokratie.
Faschismus ist ein starkes Wort. Sie halten Donald Trump wirklich für einen Faschisten?
Einer, der sagt, er werde am ersten Tag im Amt ein Diktator sein, wird auch am zweiten Tag nicht darauf verzichten. Im Regierungsprogramm Projekt 2025, das ehemalige Mitglieder des Weissen Hauses geschrieben haben, kann man lesen, was Trump durchsetzen will. Er wird nicht nur die Regierung zerstören, er wird nach Vergeltung streben. Er ist eine persönliche Gefahr für viele Demokraten – und für die Demokratie und die Freiheit an sich. Ich denke an die LGBTQ-Menschen in meiner Familie, in meinem Leben: Sie sind in Gefahr. Ich denke an die Gesundheit von Frauen: Wenn ein nationales Abtreibungsverbot auf Trumps Schreibtisch landen sollte, würde er es unterschreiben.
Wenn es so existenziell ist, dass Donald Trump besiegt wird, warum gibt es keinen Plan B, im Fall, dass Joe Biden altershalber ausfällt? Oder gibt es den?
Es gibt eine Reihe technischer Möglichkeiten für eine Ersatzkandidatur. Es finden im Moment viele Gespräche statt. Fragen werden erörtert wie: Was würde mit den Delegierten von Joe Biden passieren? Was würde mit den Geldspenden geschehen? Was passiert mit der Kampagne? Was passiert mit der Vizepräsidentin? Ich möchte aber nicht zu viel darüber sagen.
Die Frage, wie die Demokraten den Kandidaten ersetzen könnten, ist aber doch sehr wichtig?
Es gibt vor allem eine Menge Spekulationen. Die einen sind selbsterklärte Wahlexperten, andere machen nur ihrem Ärger Luft. Der Komiker Will Rogers sagte einst: «Ich gehöre keiner organisierten Partei an. Ich bin ein Demokrat.» Genau das manifestiert sich gerade. Alle behaupten, sie wüssten genau, was zu tun sei. Wir müssen jetzt aber vor allem eines tun: die Reihen schliessen. Und Joe Biden hat in den Vorwahlen erneut bewiesen, dass er die Partei vereinen kann. Auch alle, die derzeit als potenzielle Präsidentschaftskandidaten gehandelt werden, haben sich nach der Debatte hinter Joe Biden gestellt.
Es wirkt auf viele eher beunruhigend, dass niemand eine Ahnung hat, wer anstelle von Joe Biden nominiert werden könnte. Können sich die Demokraten diese kognitive Dissonanz bezüglich des Alters ihres Kandidaten leisten?
Es gibt keine kognitive Dissonanz. Joe Biden spricht ja selber offen über sein Alter. Und er ist fähig, das Präsidentschaftsamt auszuüben. Nach der neunzigminütigen TV-Debatte gegen Trump hat er noch mehrere Veranstaltungen besucht, bis 3 Uhr morgens. Natürlich zeigte sich sein Alter an dieser Debatte, was Besorgnis erregt hat. Aber muss man nun ständig das Vergrösserungsglas hinhalten, und dies ausschliesslich auf Biden? Trump lehnt sich doch zurück und lacht sich ins Fäustchen. Wir sollten stattdessen über die schrecklichen Dinge sprechen, die Trump sagt und tun will. Wir müssen sicherstellen, dass die Wähler besonders in den Swing States wissen, dass sie im November eine klare Wahl haben, und zwar zwischen Trump und Biden.
In Umfragen führt aber Donald Trump gegen Joe Biden, in praktisch allen Swing States, besonders deutlich im Süden. Warum ist das so?
Übrigens, Präsident Biden liegt in der Beliebtheitsskala vor vielen Staatsoberhäuptern. Aber ja, in Umfragen steht er derzeit im Gegenwind. Die Biden-Kampagne ist jedoch in den Swing States enorm gut aufgestellt. Sie hat allein vergangenes Wochenende über 1500 Aktionen und Veranstaltungen durchgeführt. In Nevada zum Beispiel sind wir seit Dezember vor Ort, die Republikaner hatten dagegen bis im Mai kein Wahlkampfbüro für Donald Trump. An den Universitäten ist eine Grossmobilisierung im Gang. Darüber sollte man auch nachdenken, nicht nur über Umfrageergebnisse. Niemand spricht über das Tempo im Wahlkampf, die Strategie und den Spielplan.
Trotzdem, es braucht einen starken Kandidaten. Sollte Joe Bidens Kandidatur zusammenbrechen, liesse sich kurzfristig ein Ersatz finden, der Trump besiegen könnte?
Rechtlich und technisch gesehen, kann es einen anderen Kandidaten geben. Aber nicht einen, der Trump besiegen kann. Joe Biden ist ein stärkerer Gegner als alle anderen möglichen Gegenkandidaten. Es gibt eine Menge Leute, die sagen: Der und die sollte doch jetzt eine Chance haben. Ich werde unterstützen, wer auch immer unser Kandidat ist. Aber wissen Sie, was? Joe Biden hat das Netzwerk, das Team und die Wahlkampfmaschine eines amtierenden Präsidenten zur Verfügung. Er ist unsere beste Chance, Donald Trump zu besiegen.
Suzi G. LeVine
Eine engagierte und bestens vernetzte Demokratin
Die 54-jährige Unternehmerin, Diplomatin und demokratische Aktivistin vertrat die Obama-Regierung von 2014 bis 2017 als US-Botschafterin für die Schweiz und Liechtenstein. Unter Präsident Biden diente sie als Assistant Secretary der Employment and Training Administration. Sie lehrt Public Affairs an der Brown University und lebt in Seattle.







