Paavo Järvi und der Pianist Víkingur Ólafsson bringen ein neues Klavierkonzert des führenden amerikanischen Komponisten zur Schweizer Erstaufführung. Die Konfrontation mit Mahlers 1. Sinfonie offenbart unfreiwillig, was dem Stück fehlt.
Wenn der Sohn in die Fussstapfen eines prominenten Vaters tritt, kann eine solche Weiterführung familiärer Traditionen im besten Fall eine Bereicherung für beide Seiten sein. Oft birgt so eine Erbfolge zu Lebzeiten aber auch Konfliktpotenzial, denn in der Regel bringt die nachrückende Generation eigene Vorstellungen, Wünsche und Träume ein. Die Kulturgeschichte kennt viele Beispiele nur mässig geglückter Vater-Sohn-Beziehungen, etwa das Aufbegehren der Bach-Söhne gegen ihren übermächtigen Vater oder das tragische Scheitern August von Goethes im Schatten des Dichterfürsten. Dem amerikanischen Komponisten John Adams ist vor einiger Zeit das Umgekehrte widerfahren: Er hörte ein Klavierkonzert seines ebenfalls komponierenden Sprösslings Samuel Carl Adams und hatte danach das Gefühl, nie wieder selbst ein Konzert schreiben zu können.
Der Übervater der Minimal Music fühlte sich offenbar vom Thron gestürzt. Aus der schöpferischen Krise befreite ihn erst die Begegnung mit dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson, dessen geistreiche Bach-Interpretationen Adams Père doch wieder zu einem eigenen (zweiten) Klavierkonzert inspirierten. Es trägt den vieldeutigen Titel «After the Fall», was man auch als «Vertreibung aus dem Paradies» übersetzen kann. Ólafsson, der Widmungsträger, brachte das Stück jetzt eine Woche nach der Uraufführung in San Francisco erstmals in die Schweiz, zusammen mit dem Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi.
Gemeinschaftliche Meditation über Bach
Das einsätzige, knapp dreissigminütige Werk ist weniger ein klassisches Solistenkonzert als vielmehr eine gemeinschaftliche Meditation über das c-Moll-Präludium BWV 847 aus dem ersten Teil des «Wohltemperierten Klaviers». Bachs Vorlage trägt wegen ihrer unablässigen Wiederholungen des gleichen Bewegungsmusters unter Klavierspielern den Spitznamen «die Nähmaschine». Genau diese Wiederholungsstrukturen sind wiederum das prägende Merkmal der Minimal Music.
Adams zitiert Bachs Vorlage in mehrfach überlagerten Bruchstücken allerdings erst gegen Ende. Origineller als dieser erwartbare Abschluss ist der Weg dorthin: Im intensiven Dialog zwischen Ólafsson und dem Orchester schälen sich erst allmählich einzelne Motive heraus, werden durch die klangsinnliche, aber etwas intransparente Instrumentierung unablässig in neues Licht gerückt.
Stilistisch geht es dabei einmal quer durch die Musikgeschichte: vom rhythmischen Pulsieren Strawinskys oder Bartóks, deren Energielevel Adams freilich nicht erreicht, bis zu den delikateren Farben Ravels, abgemischt mit ein paar «modernen» Wagnissen wie Clustern, die indes niemanden mehr verschrecken dürften. Wirklich neu ist nichts davon. Das Fortschrittsdenken der europäischen Avantgarde war aber auch nie Adams’ Sache, der die Vorbilder für seine minimalistischen Übermalungen und Umdeutungen immer schon bevorzugt im 19. Jahrhundert fand. Bezeichnenderweise folgt ihm sein Sohn in dieser Retro-Perspektive, scheint sich aber stärker Einflüssen aus dem 20. und 21. Jahrhundert zu öffnen.
Ein Sprung mit Mahler
Ins Grübeln kommt man hingegen schon, wenn nach der Pause ein so profiliertes Original aus dem späten 19. Jahrhundert erklingt wie Mahlers 1. Sinfonie. Auch hier gibt es zahllose Bezüge zu älterer Musik, von Schubert bis Tschaikowsky. Zugleich aber ist der charakteristische Mahler-Ton in jedem Moment präsent, nichts ist bloss herbeizitierte Stimmung.
Järvi nutzt den Umstand, dass das Orchester die Erste nun schon zum dritten Mal binnen eines halben Jahres auf den Pulten stehen hat: für eine brennend intensive, auch in der Dynamik bis in feinste Details durchgestaltete Aufführung, in der die einzelnen Instrumentengruppen wie Solisten miteinander interagieren. Dies ist keine Wiederholung, sondern ein Sprung in der gemeinsamen Arbeit.