Ein Fall vor einem Zürcher Gericht zeigt, wie das rechtsextreme Milieu funktioniert.
Der freundliche Herr Züger ist ein Neonazi. Eigentlich heisst der Mann gar nicht Züger, aber so gibt er sich aus, als er den Verwalter des Pfadiheims in Rüti im Zürcher Oberland anschreibt. Es ist der 16. Juni 2022, kurz vor Mittag, als sich der Mann per E-Mail beim Verwalter erkundigt, ob das Haus kurzfristig am Wochenende noch zu haben sei. Er behauptet, seine Wandergruppe müsse ausweichen, weil eine bereits gebuchte Hütte wegen eines Wasserschadens nicht mehr verfügbar sei.
Der Hüttenwart sagt zu. Er ahnt nicht, auf wen er sich eingelassen hat.
Statt einer Wandergruppe versammeln sich am nächsten Abend militante Neonazis beim Pfadiheim. Bald hallt es «Sieg Heil», «Judendreck» und «Ausländer raus» durch das angrenzende Wohnquartier in der Zürcher Oberländer Gemeinde. Erschrockene Anwohner alarmieren die Polizei.
Der klandestin organisierte Anlass entpuppt sich als einer der grössten Neonazi-Aufmärsche der letzten Jahre in der Schweiz. Der Kopf hinter der Veranstaltung ist Adrian Brunner (Name geändert), 30-jähriger Schweizer, Verkäufer, Gitarrist und Corona-Skeptiker.
Und vor allem ist er ein Mann mit Verbindungen zu den zentralen Figuren der rechtsextremen Szene in der Schweiz – sowohl zu den hip auftretenden rechten Influencern der Jungen Tat als auch zu den Mitgliedern der militanten Glatzen-und-Springerstiefel-Fraktion.
Zwei schweigsame Männer vor Gericht
Am Mittwoch, zweieinhalb Jahre nach dem Konzertabend, sitzt Brunner in einem Saal des Bezirksgerichts Hinwil, zusammen mit einem zweiten Beschuldigten, der beste Kontakte zum militanten Milieu pflegt. Brunner ist grossgewachsen, er erscheint mit schwarzem Pulli, Turnschuhen und einem gestutzten Vollbart zum Prozess.
Ein unauffälliger Auftritt an einem der seltenen Prozesse der letzten Jahre gegen Exponenten der Schweizer Neonazi-Szene.
Die Staatsanwaltschaft wirft Brunner und dem Mitbeschuldigten vor, den Anlass in der Pfadihütte organisiert zu haben. Sie hätten sich am Gegröle von nationalsozialistischen Parolen beteiligt oder diese zumindest gebilligt. Mit dem von ihnen organisierten Anlass hätten sie die Verbreitung von fremdenfeindlichen Äusserungen ermöglicht und sich damit der Gehilfenschaft zu Diskriminierung und Aufruf zu Hass strafbar gemacht.
Der Staatsanwalt sagt: «An diesem Treffen wurde eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit verharmlost.» Nun müsse ein Zeichen gesetzt werden. Es gelte, solche Veranstaltungen in Zukunft zu verhindern.
Dass Brunner und sein 31-jähriger Kompagnon die Organisatoren des Anlasses gewesen seien, sei klar, sagt der Staatsanwalt. Er führt dafür mehrere Beweise an. So war die Telefonnummer, die der vermeintliche Herr Züger dem Vermieter des Pfadiheims angegeben hatte, auf Adrian Brunner registriert. Auf Brunners Computer findet die Polizei später auch Dokumente zur Miete des Pfadiheims sowie einen Flyer, mit dem für den Anlass geworben wurde. Der Mitbeschuldigte sei für die Organisation vor Ort zuständig gewesen, sagt der Staatsanwalt. Dies habe er selbst zur Polizei gesagt, als diese den Anlass in der Nacht gestoppt habe.
Als der Richter ihm die Vorwürfe vorhält, schweigt Brunner. Er sagt nichts zu der Frage, ob er denn nicht gewusst habe, dass die Band, mit der auf dem Flyer geworben worden sei, in ihren Liedern rechtsradikales Gedankengut verbreite. Und äussert sich auch nicht zur Frage, ob er die fremdenfeindlichen Parolen mitgesungen oder zumindest gebilligt hat. Der zweite Beschuldigte tut es ihm gleich: Er verweigert die Aussage.
Der «witzige Typ» radikalisiert sich
Musik spielt im Leben von Adrian Brunner eine zentrale Rolle. Der Gitarrist arbeitete bis 2020 in einem Musikgeschäft im Kanton Schwyz und spielte in einer Heavy-Metal-Band. Ein ehemaliges Bandmitglied, das anonym bleiben möchte, beschreibt ihn gegenüber der NZZ als einen «witzigen Typen».
Sie hätten Brunner vor seinem Engagement als Gitarrist nur vom Sehen gekannt, sagt das Bandmitglied. Gemeinsam hätten sie an der Produktion eines Albums arbeiten wollen. Politik sei bei den Proben und dem gelegentlichen Bier aber nie ein Thema gewesen. Mit einer Ausnahme: «dem omnipräsenten Corona».
Für den ehemaligen Bandkollegen steht fest: Wegen der Pandemie und der Massnahmen habe sich Brunner radikalisiert. Irgendwann habe er erklärt, dass er sich der Jungen Tat angeschlossen habe. Deshalb hätten sie die Zusammenarbeit beendet, sagt der Musiker. Als Band distanziere man sich von jeglicher Radikalität.
Er hält Brunner zugute, dass er früh Klartext geredet habe. Er habe die Band informiert, noch bevor er auf einer linken Website als Neonazi geoutet worden sei.
Tief verstrickt in die radikale Szene
Wie eng die Verbindungen des 30-Jährigen in die radikale Szene sind, zeigt die Anklage der Zürcher Staatsanwaltschaft. Zum Abend im Pfadiheim in Rüti reisen rund sechzig Rechtsextreme aus der Deutschschweiz, der Romandie sowie aus Deutschland und Frankreich an. Unter ihnen auch bekannte Namen wie der mehrfach verurteilte Schweizer Neonazi Kevin G., der selbst aus dem Zürcher Oberland stammt und dessen Band zu den einflussreichsten Musikgruppen der militanten Szene gehört.
Sie alle sind dem Aufruf für den Anlass in Rüti gefolgt. Auf dem Flyer wird er als «Balladen- & Liederabend» beworben – inklusive Auftritt der deutschen Band Oidoxie, eines Aushängeschilds der rechtsextremen Musikszene.
Der Sänger der Band, Marko G., gilt als zentrale Figur im braunen Milieu. Belege für die Anwesenheit der Band finden sich auf Tonaufnahmen von aufgeschreckten Bewohnern aus dem benachbarten Quartier, aber auch auf Bildern. Ein Foto zeigt den Gitarristen von Oidoxie vor dem Pfadiheim, hinter ihm ist auch das Banner der Gruppe sichtbar. Die Dortmunder Band ist seit 1995 aktiv und glorifiziert rechten Terror.
Oidoxie weisen zudem Verbindungen zu Combat 18 auf, auch «Kampftruppe Adolf Hitler» genannt. Die Gruppierung wurde in Deutschland verboten, da sie sich gegen die verfassungsmässige Ordnung richtet. Das Netzwerk ist weit gespannt. Auch in der Schweiz ist Combat 18 gut vernetzt.
Für den Anlass in Rüti interessiert sich deshalb inzwischen auch die Staatsanwaltschaft in Dortmund. Sie hat ein Verfahren gegen Marko G. von den Zürcher Strafverfolgern übernommen und ermittelt wegen des Verdachts der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. Die Untersuchung ist laut Angaben der Dortmunder Staatsanwaltschaft noch nicht abgeschlossen.
Mit Führungsfiguren der Jungen Tat an Demonstration
Bei Adrian Brunner führt die Spur auch zu einer anderen, umstrittenen Gruppierung der rechtsextremen Szene: der Jungen Tat. Von Brunners Kontakt zur Gruppe zeugen Fotos, die auf linken Websites zu finden sind.
Eines davon stammt vom September 2021 aus Winterthur. Angesagt ist an jenem Herbsttag eine Demonstration gegen die Corona-Massnahmen. Unter die mehreren tausend Massnahmengegner mischen sich auch Rechtsextreme: Mitglieder der Jungen Tat. Es ist der Versuch, unter den Corona-Skeptikern neue Mitglieder zu rekrutieren.
Auch Brunner läuft an der Corona-Demo mit. Ein Bild zeigt ihn im T-Shirt einer einschlägig bekannten rechtsextremen Kleidermarke und Seite an Seite mit einer der Führungsfiguren der Jungen Tat.
Die Gruppe inszeniert ihre Aktionen in professionell geschnittenen Videos. Trotz überschaubarer Grösse erreicht sie damit viel Aufmerksamkeit. Die Strategie: Man versucht sich als scheinbar harmlose zeitgeistige Kraft im rechten Lager zu etablieren.
Obwohl die Gruppe immer wieder ins Visier von Polizei und Justiz gerät, gibt sie vor, nicht extremistisch, sondern lediglich aktivistisch zu sein. Doch wie passt das mit einem wie Adrian Brunner zusammen? Fungierte er gar als Bindeglied zum harten Kern der militanten Neonazis?
Auf Anfrage geht die Junge Tat auf Distanz. Brunner sei nie Teil der Jungen Tat gewesen, teilt sie mit. Es sei korrekt, dass er an Veranstaltungen teilgenommen habe, jedoch «ausschliesslich als Privatperson und nicht als Vertreter einer Organisation».
Zum Verfahren gegen Brunner will die Gruppe keine Stellung nehmen, weil weder Tat noch Beschuldigter in Verbindung mit der Jungen Tat stünden. Die Gruppe bestreitet zudem, Verbindungen zu Gruppierungen wie Blood & Honour zu unterhalten.
Auffällig ist bloss: Als Mitte Dezember zwei AfD-Politiker in einem Pub in Kloten auftraten, sassen im Publikum ebenfalls Mitglieder des Blood-&-Honour-Netzwerks. Ein Reporter der Plattform «Correctiv» war ebenfalls am Treffen dabei und hielt die Geschehnisse fest.
Verteidiger fordern einen Freispruch
Das Treffen in Rüti vom Sommer 2022 macht laut Sicherheitskreisen und Szenekennern sichtbar, wie beliebt das Land als Rückzugs- und Versammlungsort ist, vor allem bei Rechtsextremen aus Deutschland. Der Prozess am Bezirksgericht in Hinwil ist zudem so etwas wie ein Vorbote dafür, dass eine in letzter Zeit deutlich aktivere rechtsextreme Szene die Justiz vermehrt beschäftigen wird. Bereits sind weitere Verhandlungen angekündigt, dieses Mal gegen führende Mitglieder der Jungen Tat.
Vor Gericht in Hinwil übernehmen die Verteidiger von Adrian Brunner und dem Mitbeschuldigten das Reden. Dass an jenem Juniabend in der Pfadihütte Neonazis zugegen waren und rassistische Parolen skandiert wurden, streiten auch sie nicht ab.
Trotzdem verlangen sie vor Gericht einen Freispruch für die beiden Männer. Es gehe hier nicht um eine moralische Frage und schon gar nicht darum, ein Zeichen zu setzen. Entscheidend sei nur, ob die beiden Männer etwas Strafbares getan hätten. Und das hätten sie nicht.
Brunners Anwalt argumentiert, die rassistischen Äusserungen seien lediglich von ein paar Beteiligten gemacht worden, die ausserhalb der Hütte ein Lied gesungen hätten. Brunner könne das Fehlverhalten einzelner Gäste nicht zur Last gelegt werden. Er sei zudem gar nicht der Organisator, sondern höchstens ein Gehilfe gewesen. So stamme etwa der Flyer nicht von ihm. Es bestünden also erhebliche Zweifel an der Anklage.
Das sieht auch der Anwalt des Mitbeschuldigten so. Dieser habe den Anlass weder organisiert noch die Hütte gemietet noch den Flyer erstellt.
Beide Männer schuldig gesprochen
Der Richter lässt sich von den Argumenten der Verteidigung jedoch nicht überzeugen. Für ihn ist der Fall klar: Beide Männer sind schuldig. Dass sie die Veranstaltung organisiert hätten, sei offensichtlich, dafür gebe es genug Belege. Dem Gericht habe sich in rechtlicher Sicht vor allem eine Frage gestellt: Mussten die beiden damit rechnen, dass es zu strafbaren Handlungen kommt, und haben sie diese zumindest gebilligt?
Ja, findet der Richter. Die beiden mussten wissen, dass die Band Oidoxie für ihre rechtsextremen Texte bekannt ist, diese auch zum Besten geben würde und die Anwesenden womöglich mitgrölen würden. Dass sie die Hütte unter falschem Namen gebucht hätten, zeige ja gerade, dass ihnen bewusst gewesen sei, wie problematisch die Sache gewesen sei.
Beide Männer kommen mit einer bedingten Geldstrafe davon: 110 Tagessätze à 100 Franken bei Brunner, 100 Tagessätze à 100 Franken beim Mitbeschuldigten. Der Richter ermahnt den mehrfach vorbestraften Brunner aber, dass dies seine letzte Chance sei – und setzt die Probezeit auf hohe fünf Jahre fest. Teuer wird der Abend im Pfadiheim für ihn trotzdem: Neben einer Busse werden Anwalts- und Gerichtskosten fällig, alles in allem über 10 000 Franken.
Adrian Brunner nimmt es schweigend hin und schaut demonstrativ aus dem Fenster.
Urteile GG 240 033 und GG 240 034 vom 8. 1. 25, noch nicht rechtskräftig.