Wollte der Attentäter von Zürich zuerst eine Synagoge angreifen? Der Schutz von Gläubigen und Einrichtungen kostet Unsummen. In einer spektakulären Kehrtwende sorgte das Parlament für Entlastung.
Das Attentat auf israelische Sportler an den Olympischen Spielen von 1972 war ein Wendepunkt: Seither trifft die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) Sicherheitsvorkehrungen, um ihre Mitglieder zu schützen. In den ersten Jahrzehnten waren es hauptsächlich bauliche Massnahmen gewesen, in jüngerer Zeit fielen vor allem die Ausgaben für Sicherheitspersonal ins Gewicht.
Das Gemeindehaus, das täglich fast rund um die Uhr geöffnet ist, muss bewacht werden. Ebenso die Synagoge, die grösste und älteste in Zürich. Stets ist die Gefahr eines Gewaltakts gegenüber jüdischen Personen und Einrichtungen präsent.
Spätestens seit dem vergangenen Samstagabend und der Messerattacke eines 15-Jährigen gegen einen orthodoxen Juden ist klar: Die Bedrohung ist auch in Zürich und in der Schweiz real. Zwar hätte der abscheuliche Akt auf offener Strasse wohl auch mit (realistischen) Sicherheitsmassnahmen nicht verhindert werden können. Aber in seinem zuvor aufgenommenen Bekennervideo spricht der Täter in seinem islamistischen Furor davon, dass er zuerst eine Synagoge angreifen wolle.
Jahrelang aus eigener Tasche finanziert
Hat er es gar versucht und ist von den Schutzvorkehrungen abgeschreckt worden, nur um sich dann als ein leichtes Ziel ein Opfer im öffentlichen Raum zu suchen? Klar ist: Jüdische Einrichtungen werden derzeit noch stärker gesichert als ohnehin schon.
Jahrzehntelang hat die ICZ – abgesehen von Polizeieinsätzen – sämtliche Sicherheitsmassnahmen aus der eigenen Tasche finanziert. 2021 hat sie erstmalig Subventionen der öffentlichen Hand in Anspruch genommen, die im Jahr zuvor eingeführt worden waren. Und nun, drei Jahre später, sagt ICZ-Präsident Jacques Lande: «Zum ersten Mal seit Jahren haben wir kein strukturelles Defizit mehr, das unsere Mitglieder stopfen müssen. Das ist eine riesige Erleichterung.»
Möglich ist dies, weil das Bundesparlament in der Wintersession beschlossen hat, «Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen» grosszügiger zu unterstützen. Die vorberatende Finanzkommission des Nationalrats hatte zuerst nichts davon wissen wollen, im Plenum stimmte dann plötzlich eine Ratsmehrheit für den Antrag aus den Reihen der SP (im Ständerat wurde ein gleichlautender Einzelantrag angenommen).
Seit Januar fliessen nun also 5 Millionen statt wie bis anhin 2,5 Millionen Franken zugunsten von Gruppen, die sich durch gemeinsame Lebensweise, Kultur, Religion, Tradition, Sprache oder sexuelle Orientierung verbunden fühlen. Zwischen 2020, als die Verordnung eingeführt wurde, und 2022 sprach der Bund jährlich 500 000 Franken. Bis dahin wurden allerdings ausschliesslich bauliche Massnahmen unterstützt und keine organisatorischen, wie etwa kostspieliges Sicherheitspersonal.
Grösseres Risiko als Restbevölkerung
Bedingung ist, dass die Minderheit einer Bedrohung im Zusammenhang mit Terrorismus oder gewalttätigem Extremismus ausgesetzt ist – und dass das Risiko eines solchen Angriffs dasjenige der allgemeinen Bevölkerung übersteigt. Gemäss aktueller Einschätzung des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB), der die Gesuche zusammen mit den kantonalen und kommunalen Sicherheitsbehörden prüft, haben die jüdischen und muslimischen Minderheiten sowie die LGBTQ-Community dieses besondere Schutzbedürfnis.
Wie eine Auflistung des Fedpol zeigt, erhalten derzeit 34 verschiedene Organisationen Subventionen in der Höhe von insgesamt 4,7 Millionen Franken. Es sind dies grossmehrheitlich jüdische Gemeinschaften, aber auch vereinzelt muslimische. Die Beträge sind dabei auf den Rappen genau ausgewiesen: Mit 717 611 Franken 95 geht der grösste dieses Jahr an die ICZ.
Aufgrund der überaus kurzfristigen – vom Hamas-Terrorangriff und dem Gaza-Krieg beeinflussten – Budgeterhöhung konnten für 2024 zum ersten Mal sämtliche Begehrlichkeiten berücksichtigt werden. In den Vorjahren überstiegen die Beträge, welche die Glaubensgemeinschaften in ihren Anträgen formuliert hatten, die verfügbaren Mittel teilweise um ein Vielfaches.
Bund gibt nur die Hälfte
Der Bund spricht das Geld allerdings nicht einfach so: Gemäss Verordnung übernimmt er maximal 50 Prozent der anfallenden Kosten – den Rest müssen die Kantone, die Gemeinden oder gegebenenfalls die Gemeinschaften selbst tragen.
Zur Ergänzung der Bundesverordnung schufen jene Kantone, die über eine «relevante» jüdische Minderheit verfügen, in der Folge eine eigene gesetzliche Grundlage. Wie Recherchen zeigen, haben sie dabei allerdings ein ziemlich unterschiedliches Tempo an den Tag gelegt.
Am schnellsten war Basel-Stadt. Schon bevor die nationale Regelung in Kraft war, hatte der Kanton die Bewachung jüdischer Einrichtungen subventioniert. Zürich und Bern führten ihre eigenen Verordnungen gleichzeitig wie der Bund ein und erhöhten die Beträge ab 2023 im Gleichschritt. Der Kanton Aargau hat die Grundlage zur Unterstützung von Minderheiten im Polizeigesetz verankert.
In einer Schublade verschwunden
Umständlicher gestaltete sich die Umsetzung in den grossen Westschweizer Kantonen. Interessant ist der Fall Genf: Gemäss Angaben der israelitischen Gemeinschaft leben dort rund 7000 jüdische Personen, die zweitgrösste Gruppe der Schweiz. Ihnen stehen acht Glaubensstätten sowie Schulen, koschere Restaurants und weitere Einrichtungen zur Verfügung.
Nachdem die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter Druck aufgesetzt hatte, erarbeitete auch die Genfer Regierung im Juni 2022 eine Verordnung. Doch dann verschwand das Projekt für fast eineinhalb Jahre in einer Schublade – vielleicht auch, weil der offiziell laizistische Kanton seit je Zurückhaltung zeigt im Umgang mit religiösen Gruppierungen.
Aufgeschreckt durch die Entwicklungen im Nahen Osten, erinnerte man sich im Herbst 2023 dann aber doch an das Gesetzesprojekt. Im Eiltempo wurde es durch das Parlament gepeitscht, seit dem 20. Januar ist es in Kraft.
Gesetz bringt Planungssicherheit
Noch weniger weit ist die Waadt, immerhin der bevölkerungsreichste Kanton der Westschweiz, wenn auch nicht jener mit der grössten jüdischen Gemeinschaft (es sind schätzungsweise knapp 2000 Personen). Wie das Sicherheitsdepartement auf Anfrage bestätigt, gibt es in Zusammenhang mit der Bundesverordnung zum Schutz von Minderheiten keine eigene gesetzliche Grundlage.
Man habe eine Ausarbeitung bis anhin schlicht «nicht als notwendig erachtet», schliesslich habe man auch ohne – und in Ergänzung der Bundesgelder – der betroffenen jüdischen Minderheit einen namhaften Betrag überweisen können. Für 2024 hat der Kanton der israelitischen Gemeinde rund 170 000 Franken für Sicherheitsmassnahmen gesprochen.
Den schützenswerten Minderheiten wäre aber auch in der Waadt mehr geholfen, wenn die Beiträge auf einer gesetzlichen Grundlage fussen würden und nicht jeweils von Fall zu Fall entschieden würde. So hätten die Gemeinschaften mehr Planungssicherheit und wären nicht von den möglicherweise (partei)politisch geprägten Befindlichkeiten des gerade zuständigen Departementsvorstehers abhängig.
Gut möglich, dass ihr Wunsch mittelfristig in Erfüllung geht. Wie das Sicherheitsdepartement schreibt, arbeitet man derzeit an einem Gesetzesprojekt zum Thema. Finanzhilfen für Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen «könnten darin integriert werden», heisst es.