Die Frau des umgekommenen russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny hatte nie eine eigenständige politische Rolle und hatte eine solche auch nie gesucht. Das könnte sich nun ändern.
Wer in der dunkelsten Stunde des Lebens gefasst und mit eindringlicher Botschaft vor die Öffentlichkeit treten kann, braucht einen ungeheuren inneren Willen. Am vergangenen Freitag war Julia Nawalnaja in der Lage, an der Münchner Sicherheitskonferenz Stellung zu den Nachrichten vom Tod ihres Mannes Alexei Nawalny in russischer Gefangenschaft zu nehmen. Sie zeigte mit Worten auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Entourage. Und sie betonte darin das, worum es ihrem Mann immer gegangen war: die Familie, den Rückzugsort, und das Land – die innig geliebte Heimat Russland. Beidem galt sein Leben lang Nawalnys Leidenschaft, aber in gewissem Sinne entschied er sich am Ende für Letzteres.
Mutter und Beraterin
Julia Nawalnaja formulierte mit ihrer Botschaft, Putin und die Seinen hätten eher früher als später für das angerichtete Leid zu büssen, das, was auch Nawalny der Nachwelt hinterliess. Ob und wie sie in der russischen Politik eine Rolle spielen könnte, ist bereits Gegenstand von Mutmassungen und Phantasien. Das Beispiel der weissrussischen Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja wird immer wieder angeführt. Eines ist sicher: Gesucht hat sie eine solche Rolle nicht. Sie wurde durch das Schicksal in sie hineingedrängt, schon in den vergangenen Jahren seit Nawalnys Verschickung in die Welt der russischen Straflager. Derzeit lebt sie irgendwo ausserhalb Russlands.
Den Kritikern, die ihr Selbstinszenierung vorwarfen, etwa als sie im vergangenen Jahr den Oscar für die Dokumentation über ihren Mann entgegennahm, erwiderte sie immer, dass es ihre Aufgabe sei, gegen das Vergessen von Nawalnys Schicksal einzustehen. Sie suchte für ihn, ihren geliebten Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder Daria und Sachar, das Rampenlicht, als er es nicht mehr selbst suchen konnte.
1976 unter dem Mädchennamen Abrosimowa in Moskau geboren, wuchs Julia Nawalnaja als Tochter einer Mitarbeiterin im sowjetischen Ministerium für Leichtindustrie und eines Wissenschafters auf. Die Eltern trennten sich, als sie in der fünften Klasse war. An der renommierten Moskauer Plechanow-Universität für Wirtschaftswissenschaften schloss sie ein Studium der internationalen Beziehungen ab und arbeitete einige Zeit für eine Bank. 1998 lernte sie während Türkei-Ferien den gleichaltrigen Juristen Alexei Nawalny kennen, den sie zwei Jahre später heiratete.
Zunächst half sie, wie sie im langen Interview erzählte, das der Videoblogger Juri Dud im Herbst 2020 mit dem Ehepaar führte, den Schwiegereltern in deren Geschäft mit geflochtenen Möbeln. Als Nawalny sich immer mehr der Politik zuwandte und der Sohn Sachar 2008 geboren wurde, kümmerte sie sich vor allem um die Familie und wurde zu Nawalnys natürlicher Beraterin. Allfällige persönliche Ambitionen stellte sie hinter diejenigen ihres Mannes. Hämisch griffen Russlands Propagandisten gelegentlich ihren etwas glamourösen Lebensstil auf oder ihre oft sehr persönlichen Instagram-Posts. Darin berichtete sie mit Humor über ihr Familienleben.
Die Beziehung, die Alexei und Julia miteinander führten, galt Mitstreiterinnen und Freunden der beiden als beispielhaft, weil sie von nicht nachlassender Zuneigung zueinander geprägt war. Das bezeugt auch Nawalnys letzte Veröffentlichung auf Instagram zum Valentinstag. Darin versicherte er sie seiner Liebe. Trotz der Entfernung von Tausenden von Kilometern fühle er sich ihr in jeder Sekunde ganz nah. Am Sonntag publizierte Julia erstmals seit der Todesnachricht auf Instagram ein von hinten aufgenommenes Bild, auf dem Alexei sie umarmt und liebkost, mit dem Satz: «Ich liebe dich.»
Einsatz für Nawalnys Überleben
Mit dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny im August 2020 wurde Julia Nawalnaja erst richtig zum öffentlichen Gesicht für die Sache ihres Mannes. War sie zuvor als kühl wirkende Figur, die Nawalny im Hintergrund den Rücken freihielt, wahrgenommen worden, schien sie nun wie eine Löwin um das Leben ihres Mannes zu kämpfen, um dessen Gesundheitszustand die Ärzte im Spital von Omsk ein Geheimnis machten. Ohne ihre dramatischen Appelle im und vor dem Spital wäre die Überführung nach Berlin vermutlich nicht rechtzeitig zustande gekommen. «Du hast mich gerettet», schrieb Nawalny später in einer öffentlichen Liebesbezeugung an sie.
Zugleich führten ihr die Verhältnisse in Omsk deutlicher denn je vor Augen, was in Russland im Argen liegt: Den Chefarzt, der zugleich Mitglied der Kreml-Partei Einiges Russland ist, kümmert es mehr, was die Vorgesetzten wollen und was sie von ihm halten könnten, als wie er das Leben des Patienten retten könnte. Ähnliches sah sie im Verhältnis von Staatsmacht und Bürger auf ganz Russland bezogen, wie sie im Interview mit Juri Dud sagte. Aber obwohl sie immer wieder für politische Aufgaben gehandelt wurde, gerade auch als «Ersatz» für ihren von Wahlen ausgeschlossenen Mann, zog es sie nie in die Politik.
Das Wirken Nawalnys setzte allerdings auch sie einem immer grösseren Risiko aus, je mehr die Schergen des Kremls hinter dem unbequemen Politiker her waren. So stellte sich im Nachhinein heraus, dass ein erster Versuch des Geheimdienstes, ihren Mann umzubringen, im Frühsommer 2020 in Kaliningrad bei Julia Unwohlsein auslöste und nicht bei Alexei.
Keine Zeit zu weinen
Julia Nawalnajas Auftritt in München am Freitag bewegte das Publikum – und verstörte es vielleicht auch. Welche Beherrschtheit muss man aufbringen, um in diesem Moment vor der Weltöffentlichkeit zu bestehen? Ihr Rezept formulierte sie Ende 2020 in dem Interview mit dem Magazin «Harper’s Bazaar»: «In meinen härtesten Stunden denke ich: ‹Jetzt mache ich das, dann das, dann das. Und erst danach werde ich mir erlauben, zu weinen.› Aber wenn alles getan und erledigt ist, stellt sich heraus, dass es nichts zu weinen gibt.»
Ohne zu weinen, wird jetzt auch Julia Nawalnaja ihren Schmerz nicht bezwingen können. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie ihn zum Andenken an Alexei in Bahnen lenkt, von denen die Öffentlichkeit noch hören wird.