Zwei führende konservative Intellektuelle, Matt Ridley und Niall Ferguson, streiten darüber, ob die sinkende Lesekompetenz der Jugendlichen den Untergang der Zivilisation bedeutet.
Auslöser für den Schlagabtausch war eine Schlagzeile, die wohl kaum jemanden überraschte. «Die Lesefreude britischer Kinder sinkt auf ein Allzeittief», titelte die Zeitung «Guardian». Nicht einmal mehr ein Drittel der Kinder und Jugendlichen zwischen 8 und 18 Jahren gibt gemäss einer Langzeitstudie noch an, in der Freizeit gerne zu lesen. Vor 20 Jahren waren es über 50 Prozent gewesen. Der Anteil jener, die täglich lesen, hat sich von 38,1 auf 18,7 Prozent halbiert.
Der Publizist und Zoologe Matt Ridley, Autor des Buches «Alphabet des Lebens. Die Geschichte des menschlichen Genoms», kommentierte das Studienergebnis auf X: «So wie die Erfindung der Schrift das Auswendiglernen und Rezitieren überflüssig machte und der Buchdruck das Handschreiben, so machen Video und Audio das Schriftliche langsam überflüssig.» Und er fügte an: «Als Autor ist das schmerzhaft. Aber ist das wirklich von Bedeutung?»
It does matter, Matt. Human reasoning cannot be fully developed without the skills of reading and remembering texts, thinking for oneself, writing down ideas, and engaging in written and spoken debates. We are in the midst of a disastrous educational collapse, which AI will only…
— Niall Ferguson (@nfergus) June 11, 2025
Die Antwort kam von einem der bedeutendsten Historiker der Gegenwart, Niall Ferguson. «Es ist von Bedeutung, Matt. Menschliches Denken kann sich nicht voll entwickeln, ohne die Fähigkeit, Texte zu lesen und sie sich zu merken, ohne selbständig zu denken, Ideen aufzuschreiben und sich an schriftlichen und mündlichen Debatten zu beteiligen.» Dass immer weniger gelesen werde, sei daher ein ernstzunehmendes Problem. «Wir befinden uns mitten in einem katastrophalen Bildungskollaps, den die künstliche Intelligenz noch beschleunigen wird.»
Ähnlich alarmistisch äusserte sich der National Literacy Trust (NLT), die britische Stiftung zur Leseförderung, die die Studie in Auftrag gegeben hatte. «Die Daten sind erneut erschreckend», sagte der NLT-Chef Jonathan Douglas dem «Guardian». «Die Zukunft der Kinder ist gefährdet.» Er fordert tiefgreifende Massnahmen «zur Bewältigung der Krise».
Ein Viertel versteht einfache Texte nicht
Wie schlimm ist es tatsächlich, wenn junge Menschen nicht mehr lesen? Die Frage beschäftigt nicht nur Eltern, sie flammt auch nach jeder Pisa-Studie neu auf. Diese misst zwar nicht, wie oft oder wie gerne Kinder lesen, aber wie gut sie es können beziehungsweise ob sie das Gelesene tatsächlich verstehen. Und auch da ist seit Jahren in fast allen westlichen Ländern ein klarer Abwärtstrend zu beobachten. In der Schweiz verfügt mittlerweile ein Viertel aller 15-Jährigen nur über eine unzureichende Lesekompetenz, versteht also auch einfache Texte nicht oder nur schlecht.
Dass Erwachsene der nachfolgenden Generation fehlenden Einsatz und mangelnde Kompetenz vorwerfen, ist eine Konstante in der Menschheitsgeschichte. «Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt», soll Aristoteles vor 2000 Jahren gesagt haben. Oft wird das Lamentieren über die Lesefaulheit diesem altbekannten Schimpfen über die Jugend zugeordnet. Allerdings gibt es auch starke Anzeichen dafür, dass die Sorgen in diesem Fall nicht ganz unberechtigt sein könnten: Während im letzten Jahrhundert die Intelligenz der Durchschnittsbevölkerung stetig anstieg, stagniert sie seit einigen Jahren plötzlich. Zum Teil gehen die durchschnittlichen Leistungen bei IQ-Tests sogar erstmals leicht zurück. Die genauen Ursachen dafür sind nicht bekannt, häufig wird der veränderte Medienkonsum genannt, also die lange Zeit, die Kinder am Handy- oder Computerbildschirm verbringen, statt physische Erfahrungen zu sammeln. Oder eben: dass sie nicht mehr lesen.
Matt Ridley zweifelt in seiner Stellungnahme indirekt an, dass es einen Unterschied macht, ob man einen Roman liest oder eine Netflix-Serie schaut, ob man sich via eine Zeitung informiert oder via einen Podcast. Das Medium ändert sich, jedoch nicht unbedingt die Qualität des Inhalts. Tatsächlich sind tiefgründige Podcasts, die oft mehrere Stunden dauern, gerade bei jüngeren Menschen beliebt. Und gewisse Serien sind von einer erzählerischen Komplexität, die mit Werken der Weltliteratur mithalten kann. Allerdings ist unklar, ob man mit solchen Podcasts und Serien tatsächlich jene Leute erreicht, die nicht mehr lesen. Oder ob es eher die verbliebenen Leser sind, die auch die hochstehenden Audio- und Videoformate konsumieren.
Führt Leseabstinenz zu mehr Gewalt?
Viele Eltern animieren ihre Kinder zum Lesen, weil sie sich davon bessere Schulleistungen erhoffen. Interessanterweise öffnet sich sowohl beim Lesen als auch in der Schule der Geschlechtergraben. In beiden Bereichen haben die Mädchen die Buben abgehängt. In der Schweiz beträgt der Mädchenanteil an Gymnasien mittlerweile 60 Prozent. Parallel dazu hat die Lesefreude bei den Buben deutlich stärker abgenommen als bei den Mädchen. Das Bücherlesen ist zu weiten Teilen eine weibliche Beschäftigung.
Eine besonders kulturpessimistische Theorie besagt, dass sich die zunehmende Abkehr vom geschriebenen Wort nicht nur auf Bildung und Intelligenz auswirke, sondern auch auf die Gewaltbereitschaft in einer Gesellschaft. Denn das Lesen – vor allem von Romanen – trainiere die Vorstellungskraft, was direkt mit der Empathie zusammenhänge.
Neurologische Untersuchungen zeigen tatsächlich, dass Personen mit einer ausgeprägten Fähigkeit zum kreativen und flexiblen Denken weniger anfällig für extreme Ideologien sind. «Die kreative Vorstellungskraft ist verknüpft mit der ideologischen Vorstellungskraft», schreibt die führende Forscherin in diesem Bereich, Leor Zmigrod, in ihrem neuen Buch «Das ideologische Gehirn». Starre Denker, die Mühe hätten, sich an neue Situationen anzupassen, seien anfällig für Extremismus. Diese Erkenntnis mit der Lesekrise oder der übermässigen Bildschirmzeit in Verbindung zu bringen, wäre dennoch gewagt: Das letzte Jahrhundert – als es noch keine Smartphones gab – war mindestens so kriegerisch und gewaltsam wie das jetzige, extreme Ideologien waren weit verbreitet.
Ein grosses Menschenexperiment
Auf X schaltete sich auch der amerikanische Ökonom Gene Epstein in die Lesediskussion ein. Er schrieb an Matt Ridley gerichtet: «Matt, ich habe dein wunderbares Buch zur Evolution als Hörbuch gehört. Aber musste es nicht vorher von dir geschrieben werden?» Damit brachte er ein Argument auf, dem nur schwer zu widersprechen ist: Selbst wenn Audio und Video für viele Konsumenten attraktiver sind als reiner Text, so entstehen auch diese Inhalte in der Regel zuerst in geschriebener Form. Denn um Gedanken festzuhalten und weiterzuentwickeln, gibt es bis jetzt keine bessere Methode als das Schreiben. Aber wer weiss, vielleicht wird auch das irgendwann die künstliche Intelligenz für uns übernehmen.
Wird Lesen und Schreiben also bald etwas für Liebhaber und Nostalgiker, so wie Kutschenfahren? Und wenn ja: Ist das schlimm? Die kurze Auseinandersetzung zwischen Matt Ridley oder Niall Ferguson auf X behandelte eine der grossen kulturellen Fragen unserer Zeit. Der gegenwärtige Wandel ist wie ein grosses Menschenexperiment. Mit offenem Ausgang.