Der Psychologe Holger Richter kritisiert die Pathologisierung der Gesellschaft. Gewisse Diagnosen seien um mehrere tausend Prozent gestiegen. Eine Diagnose verleihe linken Menschen einen Opferstatus, während Rechte ihr Leben eher selbst in die Hand nähmen.
Herr Richter, psychische Erkrankungen nehmen zu, obwohl es uns materiell immer besser geht. Sie machen die Wokeness mitverantwortlich. In Psychotherapien habe sich das «Gefühlsrecht» durchgesetzt, schreiben Sie in Ihrem Buch. Aber wenn ein Patient leidet, ist das doch sein subjektives Empfinden?
Meine Kritik zielt auf bestimmte Diagnosen ab, die stark ansteigen. Leute gehen zum Therapeuten und sagen: «Ich bin hochsensibel», «autistisch», «trans» oder «habe ein ADHS». Die subjektive Sicht wird als Faktum ausgegeben. Ausgehend von seinem Gefühl, kreuzt der Patient im Selbstauskunftsfragebogen die entsprechenden Punkte an. Wokeness fokussiert auf Opfergruppen und Sensibilität. Jeder erhält so eine Diagnose, die sein Gefühl objektiviert, und dazu den Stempel des Therapeuten. Das hat auch juristische Konsequenzen.
Wie meinen Sie das?
Man kann einen Nachteilsausgleich im Studium bekommen, man kann andere verklagen, wenn man falsch benannt wird, es gibt Geld aus einem Opferfonds auch ohne juristische Belege. Diese Diagnosen sind manipulationsanfällig. Ich unterstelle das auf keinen Fall allen Patienten, aber es gibt einen Teil, der dies ausnützt.
Ist es nicht ein Fortschritt, wenn psychische Erkrankungen nicht mehr schambehaftet sind?
Psychische Erkrankungen verlieren ihr Stigma. Das ist gut, führt andererseits zu dieser Pathologisierungspandemie. Bestimmte Diagnosen sind um mehrere tausend Prozent gestiegen. Zurzeit studieren ungefähr 140 000 Studenten Psychologie in Deutschland, in den 1990er Jahren waren es 30 000. In Deutschland kommen jedes Jahr 2000 neue Psychotherapiepraxen hinzu. Für Millennials und Generation Z ist psychisches Leiden inzwischen Teil der Identitätsbildung.
Sie meinen, man identifiziert sich mit seinem ADHS oder der Hypersensibilität – und fühlt sich dadurch besonders?
Eine Diagnose bietet heute eine Identität an. Traditionelle Identitäten spielen dagegen eine viel geringere Rolle. Die Staatszugehörigkeit, die Rolle als Frau und Mann, Religion oder ob man Kind eines Professors oder Bäckers ist. ADHS, Genderdysphorie oder Autismus erschaffen neue Identitäten.
Viele Erwachsene, die nach Jahren ein ADHS diagnostiziert erhalten, empfinden das als Erlösung: Endlich hat ihr Leiden einen Namen. Was ist schlecht daran?
Ich bestreite nicht, dass eine Diagnose einem dabei helfen kann, sich zu verstehen. Aber: Man muss mit manchen Diagnosen nicht dahin sehen, wo es weh tut. Man muss sich nicht fragen, warum man immer wieder denselben Fehler macht oder so leicht kränkbar ist. Es gibt jetzt eine medizinische Ursache, eine Störung im Gehirn.
Das ist nicht immer der Fall?
Nein. Einen grossen Einfluss haben die sozialen Netzwerke mit ihrer Reizfülle und dem toxischen Angebot, sich ständig zu vergleichen. Davon sind vor allem junge Mädchen betroffen. Dazu kommen der gestiegene Drogengebrauch und die Ansteckung durch eine angebotene Identität. Eine Freundin sagt zur andern: «Der Fragebogen hier im Netz zeigt, ich habe Autismus.» Also tut die andere es ihr gleich. Gruppenidentitäten bieten Orientierung.
Eine Diagnose verleihe vielen einen Opferstatus, sagen Sie. Was ist der Vorteil davon, ein Opfer zu sein?
Wer eine Diagnose vorzuweisen hat, hat eine Erklärung, warum er dies und jenes nicht kann. Ich bin hypersensibel oder habe ADHS, es ist mir zu laut, ich darf nicht so vielen Reizen ausgesetzt sein, das Grossraumbüro überfordert mich. Manche Patienten haben schon sieben Therapien hinter sich, ohne dass es ihnen besser geht.
Sind Frauen anfälliger für eine soziale Ansteckung?
Es sind vor allem junge, woke linke Frauen, die eine Opferkultur pflegen und sich gegenseitig in der Opferrolle bestätigen. Mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Depressionen behandeln wir etwa gleich viele männliche wie weibliche Patienten, altersverteilt wie in der Bevölkerung. Auf der Psychotherapie-Station und in der ambulanten Psychotherapie überwiegen eindeutig die jungen Frauen zwischen 18 und 40 Jahren – mit Diagnosen, die oft schwer zu fassen sind und sich ausweiten, manchmal sind es sieben Diagnosen, die jemand bekommt.
Welchen Einfluss hat die politische Überzeugung auf die psychische Gesundheit?
Dieser Aspekt wird zu wenig diskutiert. Menschen, die überzeugt sind, Kontrolle über ihr Leben zu haben, geht es besser. Man sieht das im gegenteiligen politischen Spektrum – konservative Männer sagen eher: «Ich muss mein Leben selbst in die Hand nehmen, ich kann mich nicht auf den Staat verlassen. Ich muss Geld verdienen.» Scheitern sie, stehen sie wieder auf. Linksorientierte Menschen geben eher dem Staat die Schuld, wenn es ihnen schlecht geht, der Gesellschaft, dem Umfeld, dem Kapitalismus – und die Frauen dem Patriarchat. Die Haltung überwiegt: Ich kann sowieso nichts tun. Sie fühlen sich machtlos und entwickeln Symptome.
Kommen zu Ihnen tatsächlich mehr Linke in Therapie, während Rechte sich zu helfen wissen?
Ja. Junge linke Frauen sind weit mehr psychisch krank als der vielgeschmähte alte weisse Mann. Die psychische Störung bietet einen Ausweg, einen neurotischen Kompromiss, wenn man überzeugt ist, nichts ändern zu können, und doch der Gesellschaft entkommen will. Diese Patienten verlangen mit ihren Störungen nach besonderer Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme und treten oft sehr selbstbewusst auf. Sie werten andere ab, die ihr Leiden infrage stellen. Moderate rechte und konservative Menschen nehmen Leiden auch als dem Leben zugehörig, aber nicht als Krankheit.
Dass man seine Gefühle ausdrücken kann, ist positiv. Viele Männer sagen nicht, wenn es ihnen schlecht geht. Sie könnten unmännlich wirken. Wäre es nicht wünschenswert, junge Männer würden sich ebenso reflektieren, ohne Angst zu haben, als schwach zu gelten?
Auf jeden Fall. Es gibt das klassische toxische Männlichkeitsbild: Ich bin hart, ich habe keine Gefühle, ich geh darüber hinweg. Diese Männer sind anfälliger für Alkohol, sie sind aggressiver auch gegen sich selbst und haben ein höheres Suizidrisiko. Aber es gibt auch die jungen, weichen, linken Männer, die viel zu viel in sich hineinhorchen, nicht arbeiten, bei ihren Eltern wohnen und jede Anforderung der Gesellschaft als Zumutung erleben. Denen rate ich, dass sie sich etwas abschauen von der Männlichkeit, dass sie die Ärmel hochkrempeln, etwas anpacken und so Selbstwirksamkeit erleben.
Hatten Sie schon rechtsextreme Männer in der Therapie?
Wenige. Rechtsextreme leiden oft an schweren psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Paranoia. Man sieht bei ihnen häufig einen ausgeprägten Narzissmus kombiniert mit paranoiden Persönlichkeitseigenschaften. Sie haben ein geschlossenes Denken und stellen die eigene Gruppe über alle anderen Menschen. Sie schlucken lieber Medikamente, als über Gefühle zu sprechen. Ich kenne übrigens keine Rechten mit einer Genderdysphorie, die sich also im falschen Körper fühlen.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Konservative Menschen haben schon ihre Identität, Religion, Geschlechtsrolle, Familie, Heimat. Sie sind nicht so offen für neue Erfahrungen und bleiben bei dem, was ihnen sicher erscheint. Sie müssen niemanden beschuldigen, falsch benannt zu werden, weil sie im positiven Sinn narzisstisch in sich ruhen. Ihr Narzissmus ist gedeckt und sucht nicht aussen nach etwas anderem. Vielleicht sind sie auch konformistischer und verdrängen Widersprüche und kognitive Dissonanzen.
Eine Gesellschaft, die sich über die Abweichung von der Norm definiert, hat etwas Narzisstisches. Können Sie auch da politische Typen ausmachen?
Narzisstische Persönlichkeiten neigen zu Weltrettungsphantasien. Das sieht man im linken und grünen Spektrum, aber auch bei den Rechten. Dort äussert sich der Narzissmus in Überlegenheitsphantasien gegenüber anderen Ethnien. Bei den Patientinnen der Diagnoseninflation ist der vulnerable Narzissmus verdeckt. Sie wollen über die Diagnose Zuwendung, Versorgung und Weltbeschuldigung.
Jeder glaubt sich von Narzissten umgeben. Niemand will aber narzisstisch sein.
Es ist schon auffällig: Während ADHS oder Autismus zunehmen, ist die Narzissmus-Diagnose selten. Ich habe in den letzten Jahren als Gutachter 8000 Therapieanträge gelesen. Dort wurde nur dreimal die Diagnose narzisstische Persönlichkeitsstörung gestellt. Die Leute, die heute zu mir kommen und sagen, sie hätten Autismus, haben oft eine Familie, einen Beruf, sie verdienen ihr Geld – und wirken narzisstisch. Sie kreisen um sich selbst, können sich nicht in andere hineinversetzen. Die ursprüngliche Autismusdiagnose war eine schwere Entwicklungsstörung mit intellektuellen und sozialen Beeinträchtigungen.
Wenn Narzissmus-Diagnosen so selten vergeben werden: Heisst das, dass die Therapeutinnen und Therapeuten bestätigen, was ihre Patienten selber als Diagnose vorschlagen? Oder wollen die Therapeuten ihre Patienten schonen?
Das ist ein wichtiger Aspekt beim Diagnosen-Anstieg. Mittlerweile sind zu fast 80 Prozent Frauen in der Psychotherapie tätig, und drei Viertel der Patienten sind Frauen. Im Jahr 2000 waren 60 Prozent der Therapeuten weiblich. Frauen bestätigen sich untereinander mehr als Männer. Sie widersprechen seltener, sind empathischer und gesundheitsbesorgter. Eine Therapeutin hinterfragt die Patientin, die sich als Opfer fühlt, womöglich weniger. Einige Therapeuten haben auch Angst, als frauenfeindlich, rassistisch oder transphob zu gelten, und bestätigen lieber.
Das klingt, als wären vor allem die Frauen an der Pathologisierung der Gesellschaft schuld.
Es geht nicht um Schuld, sondern um gesellschaftliche Rollen und deren Reflexion. Wir Therapeuten, Frauen und Männer, haben eine Verantwortung, die Entwicklung und unsere Rolle darin kritisch zu reflektieren. Bei den Diskussionen in unserer Klinik sind die Frauen führend. Auch ist dies nur ein Faktor unter vielen für den Trend.
Nun gibt es Anzeichen, dass der woke Zeitgeist endet. Die Wahl von Donald Trump, die rechtsnationalistischen Tendenzen in vielen Ländern. Könnte die Kritik an der Wokeness dazu führen, dass psychisch Kranke wieder stärker stigmatisiert werden?
Das glaube ich nicht. Es wäre wünschenswert, wenn die Auswüchse der Pathologisierung vermehrt infrage gestellt würden und die Leute ihr Leben in die Hand nähmen. Wir müssen die wirklich psychisch Kranken aber weiterhin gut und effizient behandeln und ihnen möglichst Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Das ist unsere Aufgabe, und dafür brauchen wir alle Kapazitäten.
Man muss also nicht befürchten, dass der psychisch Kranke als schwach und verachtenswert gilt im Gegensatz zum gesunden, lebenstüchtigen Menschen?
Nein. Wenn sich jetzt aber die Haltung wieder stärker durchsetzt, dass man nicht jedes menschliche Verhalten pathologisieren muss, kann das sogar helfen. Ein Mensch braucht noch keine therapeutische Begleitung bei Trauer und im Rechtsstreit. Soziale Kontakte, Natur, Sport, Genuss, Kunst und eigene Zielsetzungen sind genauso gute Therapeuten.
Holger Richter ist leitender Psychologe des St.-Marien-Krankenhauses Dresden. Vor kurzem ist sein Buch «Jenseits der Diagnosen. Fallstricke der Psychotherapie» erschienen. Kohlhammer: Stuttgart 2024. 266 Seiten, Fr. 33.–.