«Dutti» weckt Emotionen bis heute. Wer war er?
In gewisser Weise ist Gottlieb Duttweiler der erfolgreichste Unternehmer, den die Schweiz je hatte. Bei welcher Firma fragt man sich über 60 Jahre nach dem Tod des Gründers, was dieser zu den aktuellen Entwicklungen sagen würde? Das geschieht nur bei der Migros. Die Detailhändlerin nimmt gerade einen radikalen Umbau in Angriff. Und die Schweiz rätselt, ob sie damit «Duttis» Erbe verspielt.
Mit Handelsgeschäften zum Kriegsprofiteur
Als Duttweiler die Migros im Jahr 1925 gründet, ist er bereits zweimal gescheitert. Er ist schon ganz oben gewesen, aber tief gefallen.
Duttweilers Karriere beginnt nach der Schule in Zürich, in der er nach eigener Aussage «gerade so durchgekommen» war. Er macht eine kaufmännische Lehre beim renommierten Grosshandelshaus Pfister & Sigg. Schnell zeigt sich sein Talent als Händler.
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, packt Duttweiler seine Chance: Er ist für das Unternehmen als Handelsreisender auf der halben Welt unterwegs, schliesst Verträge für alle möglichen Rohwaren ab, nutzt die Preisanstiege aus. Duttweiler wird zum Kriegsprofiteur. Pfister & Sigg ändert den Namen in Pfister & Duttweiler. Der Jungmillionär baut sich in Rüschlikon am Zürichsee eine prächtige Villa, feiert rauschende Partys und legt sich eine Kunstsammlung zu.
Doch das Ende des Ersten Weltkriegs bringt das erste Scheitern. Wegen einer Währungskrise entwerten sich die Warenvorräte des Handelshauses. Duttweiler hat sich verspekuliert. Sein Unternehmen wird liquidiert. Er verliert sein ganzes Vermögen und muss zur Deckung der Schulden seine Villa in Rüschlikon verkaufen.
Gottlieb Duttweiler und seine Frau Adele wandern nach Brasilien aus. Dort betreiben sie eine Kaffeeplantage. Aber Duttweiler merkt bald, dass er nicht zum Bauern taugt, und seiner Frau gefällt es nicht. Nach knapp einem Jahr kehrt das Paar 1924 in die Schweiz zurück.
Gründer mit dem Mut der Verzweiflung
Duttweiler scheint am Ende. Mit 36 Jahren steht er in der Mitte seines Lebens, aber er ist zweimal gescheitert. In der Schweiz hat man nicht auf ihn gewartet. Er bewirbt sich beim Allgemeinen Konsumverein Basel – einer Vorläuferin der heutigen Coop – als Angestellter und wird abgelehnt. Es ist eine tiefe Demütigung.
«Duttweiler war ein Gründer mit dem Mute der Verzweiflung, als er 1925 seine legendären Migros-Lastwagen erstmals auf die Strasse schickte», schreibt der Journalist und Duttweiler-Kenner Karl Lüönd in einer Rückschau. Es ist vielleicht seine letzte Chance. Aber diesmal trägt die Idee.
Ein komplizierter Zwischenhandel und kartellistische Strukturen treiben die Lebensmittelpreise in der Schweiz in die Höhe. Duttweiler sagt sich: Wenn ich direkt vom Hersteller zu den Kunden liefere, meine Fixkosten tief halte und den Gewinn halbiere – dann sind meine Preise unschlagbar. «Grundsätze des Grosshandels im Kleinhandel angewendet», so schreibt Duttweiler im ersten Migros-Flugblatt. Daraus dürfte sich auch der Name des Unternehmens ableiten, von «De-Mi» (halb) und «Gros».
Duttweiler setzt fünf Ford-T-Lastwagen als mobile Verkaufsstationen ein, um Kosten zu sparen. Sie haben anfangs nur sechs Produkte im Angebot: Kaffee, Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett und Seife. Es sind haltbare Waren mit schnellem Umlauf, die er um bis zu 40 Prozent günstiger verkauft als die Konkurrenz.
Bei den Kundinnen – es sind vor allem Frauen – schlägt die Migros-Idee sofort ein. «Ich habe die Erfahrung gemacht: Die seelische Landschaft der Hausfrauen ist vom Portemonnaie aus gesehen überall die gleiche», erklärt Duttweiler später in einem Interview. Von da an sind die Hausfrauen die engsten Verbündeten Duttweilers.
Einer im Kampf gegen alle
Doch das Startup Migros weckt enorme Widerstände. Die etablierten Ladenbesitzer versuchen die Menschen mit Blockaden daran zu hindern, beim neuen Konkurrenten einzukaufen. Mancher Pfarrer erklärt von der Kanzel herab, man solle nicht zur Migros gehen. Lebensmittelhersteller belegen das Jungunternehmen mit einem Lieferboykott.
Duttweiler merkt, wenn er überleben will, muss er selbst produzieren. Sein erster eigener Betrieb liefert Süssmost. Später kommen Speiseöl und Kochfett hinzu, die er weit unter den Monopolpreisen verkauft, oder Schokolade. Die Migros-Produktionsbetriebe und ihre Eigenmarken werden, aus der Not geboren, zu Charakteristika des Unternehmens.
Duttweiler macht es nichts aus, sich mit allen gleichzeitig anzulegen. Er bringt die bürgerlichen Gewerbler und Fabrikanten gegen sich auf. Den traditionellen Konsumgenossenschaften rechnet er mit Preisvergleichen genüsslich vor, dass sie zu hohe Fixkosten und eine schlechte Organisation hätten. Damit macht er sich auch die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten zu Feinden.
Schwierige Persönlichkeit
Der Migros-Gründer zeigt in dieser Phase die Züge eines «commercial animal» – eines Vollblutunternehmers, der seine Ideen unbeirrt verfolgt. Karl Lüönd beschreibt ihn als schwierigen Charakter: «Wie viele grosse Persönlichkeiten war er in der Nähe schwer zu ertragen. Duttweiler war anstrengend, dennoch waren die Leute um ihn voll Bewunderung für seinen Lebens- und Arbeitsstil.» Er sei energiegeladen, sprunghaft, besessen, besitzergreifend und manchmal rücksichtslos gewesen – aber dann auch wieder mitfühlend und liebenswürdig. Duttweiler setzte auf Tempo, auf Versuch und Irrtum – er hatte «die Gabe, die Dinge schnell voranzubringen».
Die enormen Widerstände treiben den Unternehmer Duttweiler auch in die Politik. «Ich bin in die Politik gegangen worden», erklärt er. Im Jahr 1933 beschliesst das Schweizer Parlament ein «Verbot der Neuerstellung oder Erweiterung von Kaufhäusern, Warenhäusern und Einheitspreisgeschäften». Das Filialverbot, das den Strukturwandel im Detailhandel aufhalten soll, ist gegen die Migros gerichtet.
Duttweiler stampft in kurzer Zeit den Landesring der Unabhängigen (LdU) aus dem Boden. Bei den nationalen Wahlen im Jahr 1935 feiert die oppositionelle Bewegung einen spektakulären Sieg. Der LdU wird zweitstärkste Kraft im Kanton Zürich und der Migros-Gründer Nationalrat.
Ein Fremdkörper in der Schweizer Politik
Doch Duttweiler stösst im Establishment auf grosse Ablehnung. Er sei «in der helvetischen Politik als geschmackloser und exzessiver Kaufmann mit unberechenbaren Allüren wahrgenommen» worden, schreibt der Historiker Hans Ulrich Jost in einer Rückschau auf dessen politisches Wirken.
In der Nachkriegszeit wird Duttweiler zur umstrittensten Person in der Schweiz. Aus Frust über den Politbetrieb wirft er 1948 mit gezielten Steinwürfen im Bundeshaus zwei Fensterscheiben ein. «Ist Duttweiler verrückt geworden?», fragt die Schweizer Presse. Seine Gegner beschimpfen ihn als Schwätzer, Volksbeglücker, wirtschaftspolitischen Abenteurer und «kleinen Göring von Rüschlikon». Tatsächlich wirkt Duttweiler in dieser Zeit wie ein Systemsprenger, der gegen den helvetischen Filz von Markenherstellern, Wirtschaftslobbyisten und Behörden ankämpft.
Wandlung zum Idealisten
Doch in der Bevölkerung geniesst Duttweiler viele Sympathien. Ein Grund dafür ist, dass der Migros-Gründer sein Unternehmen im Jahr 1941 in eine Genossenschaft umwandelt und an die Kunden verschenkt. Warum Duttweiler dies tut, bleibt umstritten. Treibt Menschenliebe den kinderlosen Unternehmer an? Oder ist es ein kluger Schachzug, weil Duttweiler weiss, dass seine Migros als Unternehmen nur erfolgreich sein kann, wenn sie einen grossen Rückhalt in der Bevölkerung geniesst?
Während Duttweiler als Vollblutunternehmer gestartet ist, zeigt er nun vermehrt idealistische Züge. Er spricht gerne von einer Wirtschaft mit sozialer Verantwortung, die «den Menschen ins Zentrum stellt, nicht den Franken». Sein Konzept des «sozialen Kapitals» bleibt zwar stets schwammig, aber seine Taten sind fassbar. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bringt die Migros mit Ex Libris Bücher unter das breite Volk, sie investiert in die Erwachsenenbildung und finanziert Kulturanlässe. Im Jahr 1957 verankert Duttweiler das «Kulturprozent» in den Migros-Statuten. Der einstige Jungmillionär lebt nun selbst bescheiden und fährt einen Fiat Topolino.
Das soziale Engagement dient wohl auch dazu, das ungestüme Wachstum der Migros zu legitimieren, wie der Historiker Thomas Welskopp feststellt. Die Migros ist in der Nachkriegszeit weiterhin im Angriffsmodus. Sie bringt als erste Detailhändlerin Supermärkte mit Selbstbedienung in die Schweiz (1948), steigt ins Tankstellengeschäft ein (1954) oder eröffnet Do-it-yourself-Märkte (1959).
Immer für Überraschungen gut
Duttweiler ist nicht nur als Unternehmer kreativ. Er fällt bis zu seinem Tod im Jahr 1962 auch immer wieder mit unkonventionellen politischen Aktionen auf. Einmal tritt er beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf in einen Hungerstreik, um einem politischen Anliegen Nachdruck zu verleihen. Ein andermal fordert er die Gründung eines «Forum Humanum» zur Förderung des Weltfriedens.
Was Gottlieb Duttweiler über die Migros von heute denken würde, darüber lässt sich nur spekulieren. Ziemlich sicher ist nur: Seine Ansichten würden überraschen. Duttweiler setzte sich zeitlebens zwischen alle Stühle – er würde es wohl auch heute tun.