Darf man ukrainische Kinder und russische Soldaten auf eine Stufe stellen? Zwei Auszeichnungen bei den World Press Photo Awards sorgen für Empörung.
Die Jury der World Press Photo Awards vergibt einen der wichtigsten Preise im Fotojournalismus. Viele prämierte Sujets sind bis heute weltbekannt: Salvador Allende, der den Präsidentenpalast verlässt, kurz bevor er erschossen wird; der bis heute unbekannte Mann, der sich 1989 vor dem Tiananmen-Massaker den Panzern entgegenstellt.
Bei ihrer jüngsten Preisvergabe ist die Jury gleich in zwei Fallen getappt: in die erste blindlings, in die zweite sehenden Auges. In der Kategorie «Stories» wurde ein Foto der Strassenproteste in Georgien ausgezeichnet: Ein Demonstrant mit aufgesetzter Gasmaske schwenkt die georgische Nationalfahne vor einer Front von Polizisten. Der prämierte Fotograf Michail Tereschtschenko arbeitet für die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass.
Bei der «Befreiung» Mariupols dabei
Umgehend protestierten georgische Fotojournalisten in einem offenen Brief: «Die Auszeichnung eines prorussischen Fotografen für die Dokumentation antirussischer Proteste ist nicht nur tief widersprüchlich, sondern bedeutet auch eine direkte Beleidigung aller, die ihr Leben riskieren, um gegen die russische Einmischung in die Souveränität und Zukunft Georgiens auf die Strasse zu gehen.»
In seiner Antwort unterstrich World Press Photo, die Materialien seien den Juroren ohne Nennung von Name und Herkunft des Autors unterbreitet worden. Man müsse gerade auch Journalisten in «Ländern mit eingeschränkter Pressefreiheit» unterstützen. Allerdings kann man sich in diesem Fall nicht mit solchen Phrasen herausreden. In einem Tass-Interview hatte Tereschtschenko kürzlich von seiner Arbeit als eingebetteter Fotograf bei der «Befreiung» Mariupols gesprochen und damit den russischen Urbizid in der Ukraine geleugnet.
World Press Photo will zwar an der Auszeichnung Tereschtschenkos festhalten, hat aber in Aussicht gestellt, die Teilnahmebedingungen am Wettbewerb zu überarbeiten.
Jury räumt «Fehler» ein
Der zweite Fall ist anders gelagert. Im Bereich «Europa» wurden zwei prämierte Fotos aus dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine als «Tandem» vorgestellt. Florian Bachmeier porträtierte ein traumatisiertes ukrainisches Mädchen, das mit offenen Augen reglos auf einem Bett liegt. Nanna Heitmann fotografierte in einem russischen Feldlazarett einen Soldaten der Donezker Volksrepublik kurz vor der Amputation eines Arms und eines Beines.
Beide Bilder – so die Jury – veranschaulichten «die physischen und psychologischen Beschädigungen» durch diesen Krieg. Die Paarung ermögliche eine «tiefere und nuanciertere Sicht» auf die Folgen der Kampfhandlungen. Empört wandten sich die Vereinigung der ukrainischen Pressefotografen und das ukrainische Aussenministerium gegen die moralische Gleichsetzung des Aggressors mit dem Opfer der Aggression.
Angesichts der Proteste ist World Press Photo zurückgerudert und hat die Kombination der Bilder von Bachmeier und Heitmann als «Fehler» bezeichnet. Das Diptychon habe eine «zu stark vereinfachte und falsche Äquivalenz» geschaffen. Auf der Website wurden die Bilder darauf getrennt. Der Jurykommentar wurde um die problematischen Passagen gekürzt.
Wie «Der tote Christus im Grabe» von Hans Holbein
Was ist die grössere Bedeutung dieser beiden Fälle? Die prämierten Fotos sind zweifellos vollwertige Kunstwerke. Die Debatte um die politische Dimension dieser Auszeichnungen hat genau mit dem ästhetischen Status der Bilder zu tun. Pressefotos werden mit dem Anspruch veröffentlicht, ein gültiges Abbild der Wirklichkeit zu geben.
Allerdings können Bilder durch die Auswahl des Bildausschnitts, die Komposition und die Farbgebung mit hohen emotionalen Energien aufgeladen werden. Dies zeigt sich besonders deutlich in Nanna Heitmanns Bild des verletzten Soldaten. Die Komposition des Bildes spielt auf zwei Vorbilder aus der Kunstgeschichte an: Hans Holbeins Gemälde «Der tote Christus im Grabe» und Leonardo da Vincis «Abendmahl».
Durch dieses doppelte Zitat wird die Figur des Soldaten metaphysisch überhöht: Er erscheint als ein neuer Messias, der für ein höheres Ideal leidet. Damit stützt das Foto letztlich ein Propagandanarrativ des Kremls, das seine Soldaten als Erlöser feiert und ihnen einen genau definierten Platz in der nationalen Heilsgeschichte zuweist.
Die ästhetische Faktur des Pressefotos tritt in diesem Fall in einen scharfen Gegensatz zur moralischen Beurteilung des dargestellten Themas. Die Jury raunte etwas vom «komplexen symbolischen Gewicht» des Fotos, das zum «Denken anrege». Solche rhetorischen Nebelkerzen verdecken die Verantwortung der Jury aber nur notdürftig. Die Wahrheit des Bildes ist ebenso einfach wie bitter: Der Soldat ist verletzt worden, weil er in einem brutalen Angriffskrieg kämpft. Dieser Krieg ist im fernen Moskau angezettelt worden.
Bestenfalls ist das Leiden des Soldaten eine sinnlose Folge von Putins skrupelloser Kriegsentscheidung. Schlimmstenfalls ist er mit verantwortlich für die Traumatisierung des Mädchens, dessen Kindheit gerade zerbombt wird.