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Das 1907 eröffnete Berliner KaDeWe ist mehr als nur ein Kaufhaus. Verkauft werden nicht nur Waren, sondern auch Träume, Luxus wird zelebriert. Zugleich haben die deutschen Verheerungen des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen.
Es ist kurz vor zehn Uhr morgens. An der Tauentzienstrasse in Berlin, unweit des Bahnhofs Zoo, des Kurfürstendamms und der Gedächtniskirche, warten die ersten Kunden auf Einlass ins Kaufhaus des Westens (KaDeWe). Es ist ein Querschnitt der üblichen Kundschaft: eine Stammkundin, die eine der eleganten KaDeWe-Tüten bereits in den Händen hält, ein älterer Herr mit Kaiser-Wilhelm-Bart, der sich mit einem Freund auf einen Kaffee im siebten Stock des Kaufhauses verabredet hat, ein kurzgeschorener junger Mann mit Sonnenbrille trotz trübem Wetter und eine Touristin mit Rollkoffer.
Wenn sich das Gitter senkt
Zehn Minuten vor zehn senkt sich das reichverzierte Eisengitter vor dem Haupteingang in den Boden. Doch erst Punkt zehn werden auch die Türen dahinter geöffnet. So wie jeden Morgen. Ausser am Sonntag, an dem das KaDeWe mit wenigen Ausnahmen geschlossen bleibt. Von dem zu Wochenbeginn bekanntgewordenen Insolvenzantrag der KaDeWe Group ist hier nichts zu spüren. Die drei Luxuskaufhäuser der Gruppe – neben dem KaDeWe in Berlin sind es das Alsterhaus in Hamburg und der Oberpollinger in München – bleiben normal geöffnet.
Das Eisengitter soll noch immer das Original aus dem Jahre 1907 sein, als das KaDeWe am 27. März eröffnet worden ist. Das Haus hat seither diverse Erweiterungen und Umbauten, einen Grossbrand im Zweiten Weltkrieg, einen Wiederaufbau und sieben Besitzerwechsel hinter sich gebracht. Es hat sich immer wieder neu erfinden müssen.
«Wir verkaufen Träume»
Eines aber ist geblieben: Das KaDeWe versteht sich als Konsumtempel der Luxusklasse. Bot es in der Gründerzeit ein gehobenes Sortiment für die Elite des Wilhelminischen Kaiserreichs an, trifft man heute neben einheimischen Flaneuren auch viele Touristen aus aller Welt im weitläufigen Gebäude. Manche geben im Erdgeschoss in den Shops von Luxusanbietern wie Bucherer, Louis Vuitton oder Hermès sagenhafte Summen für eine Uhr, eine Handtasche oder ein Foulard aus. Andere kommen zum Schauen und Staunen, so wie sie auch das Brandenburger Tor besichtigen – schliesslich verweist fast jeder Reiseführer auf das KaDeWe.
«Wir verkaufen nichts, was man unbedingt braucht. Wir verkaufen Illusionen, Träume und Wünsche», fasste der Schweizer André Maeder, der bis Ende Oktober 2023 Chef der KaDeWe Group war, die Philosophie des Hauses 2019 im NZZ-Interview zusammen.
Ähnlich dürfte schon der Kaufmann Adolf Jandorf gedacht haben, als er nach der Errichtung mehrerer Warenhäuser für den einfachen Bedarf ab 1905 ein Haus für gehobene Wünsche bauen liess. Schon damals war das KaDeWe mit einer Fläche von 24 000 Quadratmetern auf fünf Etagen nicht nur sehr gross, sondern mit prächtigen Fensterfassaden, lichtdurchfluteten Verkaufshallen und holzgetäferten Erfrischungsräumen auch architektonisch beeindruckend.
Waren werden inszeniert
Bis heute werden Waren im KaDeWe nicht einfach ausgestellt und verkauft, sie werden inszeniert. Bis heute ergänzen Dienstleistungsangebote wie ein Chauffeur- und Limousinenservice, ein Änderungsatelier oder Beauty-Lounges den Verkauf von Mode, Kosmetik, Lebensmitteln und vielem mehr. Anderes, darunter eine Leihbibliothek, wurde wieder aufgegeben.
«Kaufhaus des Westens» nannte Jandorf sein Flaggschiff in Anlehnung an den «Neuen Westen», wie die städtebaulichen Erweiterungen um die Tauentzienstrasse herum damals genannt wurden. Von der Mitte Berlins war die Region ein ganzes Stück entfernt, weshalb die gute Anbindung über den Verkehrsknotenpunkt Wittenbergplatz direkt neben dem KaDeWe wichtig war. Das Kaufhaus lag in der damals noch selbständigen Stadt Charlottenburg. Nach der Einbürgerung Charlottenburgs in Gross-Berlin im Jahr 1920 und der Gebietsreform von 1938 zählt es heute zum Stadtteil Schöneberg.
1927 wurde das KaDeWe durch den Hertie-Konzern (ursprünglich: Hermann Tietz OHG) übernommen. Es folgte eine Vergrösserung auf sieben Etagen und – mitten in der Weltwirtschaftskrise – die Einrichtung einer Feinkostabteilung. Letztere zählt bis heute zu den Attraktionen. Mit ihren zahlreichen Verkaufspunkten und Restaurants – von der Austernbar über «Esser – die moderne israelische Küche» bis zur Champagner-Bar – ist sie ein Schlaraffenland für alle, die einen Funken Interesse an leiblichen Genüssen haben. Allein für Pralinen wird man hier leicht ein kleineres Vermögen los.
Wer nicht nur den Gaumen verwöhnen, sondern auch Ausblick haben will, sollte mit der Rolltreppe noch eine Etage höher in den siebten Stock fahren. Unter einer kühnen Glaskuppel isst man dort mit einem weiten Blick über die Dächer Westberlins, bei Selbstbedienung zu bezahlbaren Preisen.
Ein Spiegel der Geschichte
Sosehr das KaDeWe zu Berlin gehört, so sehr spiegeln sich in ihm die deutschen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts wider. Unter dem Nazi-Regime wurden die jüdischen Gesellschafter des Hertie-Konzerns ab 1933 de facto enteignet sowie Leitung und Belegschaft «arisiert».
Während des Zweiten Weltkriegs, im November 1943, stürzte ein amerikanisches Kampfflugzeug in das Dachgeschoss, was einen Grossbrand auslöste. Der Wiederaufbau zog sich über fast anderthalb Jahrzehnte hin. Erst 1956 war die Rekonstruktion aller sieben Etagen abgeschlossen, und das Kaufhaus wurde in der Zeit des Wirtschaftswunders erneut zum Symbol von Wohlstand.
Doch mit dem Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 verlor das KaDeWe einen erheblichen Teil seiner Mitarbeiter und Stammbesucher, die fortan im Osten der Stadt festsassen. Der Name «Kaufhaus des Westens» bekam nun auch eine symbolische Bedeutung: Westberlin gehörte zur Bundesrepublik, war aber im Kalten Krieg als Vorposten des Westens ringsum von der DDR umgeben. Wenige Kilometer westlich der Mauer präsentierte das KaDeWe eine glitzernde kapitalistische Warenvielfalt – und wurde damit für DDR-Bürger zum Sehnsuchtsort und für deren kommunistische Führung zur Provokation.
Kein Wunder, strömten nach dem Mauerfall am 9. November 1989 laut Firmenangaben an manchen Tagen 200 000 Personen in das Warenhaus. Das war das stärkste Besucheraufkommen in der Firmengeschichte und entspricht etwa dem Vierfachen der durchschnittlichen heutigen Besucherzahl pro Tag. In der Weihnachtszeit allerdings zählt das KaDeWe noch heute bis zu 100 000 Besucher am Tag – dann muss man an einer der vielen Rolltreppen gelegentlich einmal anstehen.
Die Besitzer wechseln, das KaDeWe bleibt
In den 1990er Jahren wurde die Verkaufsfläche auf den heutigen Umfang von rund 60 000 Quadratmetern erhöht, was etwa acht Fussballfeldern entspricht und das KaDeWe zu einem der grössten Kaufhäuser Europas macht.
Ab 1994 folgten mehrere Eigentümerwechsel. Seit 2015 gehört die KaDeWe Group zu 50,1 Prozent der thailändischen Central Group und zu 49,9 Prozent der Signa von René Benko. Unter dieser Eigentümerschaft begann 2016 ein weiterer mehrjähriger Umbau nach den Plänen des Stararchitekten Rem Koolhaas und von dessen niederländischen Büros OMA. Im Juni 2020 packte das KaDeWe die bisher letzte grosse Neuerung an: die Eröffnung eines Online-Shops.
Rauschende Eröffnungspartys nach Umbauten, zahllose Anekdoten über prominente Kunden und dreiste Diebstähle haben über die Jahre zum Mythos KaDeWe beigetragen. Weiter an der Legende gestrickt hat die Ende 2021 von der ARD ausgestrahlte Miniserie «Eldorado KaDeWe – jetzt ist unsere Zeit», die dem Schicksal des Kaufhauses in den 1920er Jahren gewidmet ist.
Der schrittweise Zusammenbruch des Signa-Imperiums fügt der Geschichte des Hauses ein weiteres Kapitel mit noch ungewissem Ausgang hinzu. In der Pressemitteilung zur Ankündigung des Insolvenzantrags erklärte der Geschäftsführer der KaDeWe Group, Michael Peterseim, man könne «bei normalen Mieten eine starke Zukunft haben». Der Umsatz der ganzen Gruppe ist laut der Mitteilung im Geschäftsjahr 2022/23 mit knapp 728 Millionen Euro um fast 24 Prozent über dem Vor-Corona-Jahr 2018/19 gelegen. Die Mieten für die drei Standorte, die zu einem erheblichen Teil an Signa fliessen, seien in dieser Zeit aber um fast 37 Prozent gestiegen, sie seien unverhältnismässig hoch und würden den Erfolg zunichtemachen.
Wie viel von diesem Umsatz auf das KaDeWe entfällt, ist nicht bekannt. Gemessen an der Verkaufsfläche und der Mitarbeiterzahl von 900 Personen ist es indessen mehr als doppelt so gross wie die anderen beiden Kaufhäuser der Gruppe zusammen.
Ende November hatte Peterseim in einem Interview mit dem Berliner «Tagesspiegel» selbstbewusst erklärt: «Wir sind sicher, dass wir auch in 100 Jahren noch hier sitzen.» Inzwischen ist die Lage ernster. Doch die Warenhaus-Ikone könnte attraktiv genug sein für eine Lösung, sei es im Zuge einer vollständigen Übernahme durch die Central Group, sei es in anderer Form. Das Eisengitter von 1907 dürfte sich damit weiterhin senken. Jeden Morgen kurz vor zehn. Ausser am Sonntag.
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