Die Kandidatur von Kamala Harris versetzt die Demokraten in Euphorie. Ihre Chancen sind intakt, doch die Ausgangslage ist alles andere als einfach.
Üblicherweise beginnt ein Wahlkampf für die amerikanische Präsidentschaft mindestens 18 Monate vor den Wahlen. Donald Trump stieg am 15. November 2022 ins Rennen, eine Woche nach den Zwischenwahlen. Kamala Harris weiss seit letztem Sonntag, dass sie kandidiert – einen Monat vor dem Parteitag in Chicago.
Die Demokraten haben sich in atemberaubendem Tempo hinter Kamala Harris versammelt; innert 24 Stunden nach dem Rückzug Joe Bidens war ihre Nominierung durch ein Mehr von Delegiertenstimmen gesichert. Die offizielle Nominierung soll in einer Woche beginnen, und bis am 7. August soll feststehen, wen Harris als Vizepräsidenten an ihre Seite holt. Nach der Agonie von Joe Bidens Kandidatur fehlten den Demokraten offenbar die Nerven für eine kompetitivere Talentsuche.
«Im Dunkel der Nacht sehen wir unsere leuchtendsten Sterne», zitiert Associated Press den Vorsitzenden der Demokratischen Partei, Jamie Harrison, am Mittwoch. Etwas prosaischer ausgedrückt: Die Kandidatur von Kamala Harris wurde aus der Not geboren. Ob sie sich bewährt, muss sich erst zeigen. Der kommende Monat ist entscheidend, denn Kamala Harris muss eine Infrastruktur aufbauen, ein politisches Profil definieren, die Basis begeistern und dann eine breite Koalition von Wählergruppen bauen, wie es Barack Obama 2008 getan hat. Diese Herausforderungen zu bewältigen, ist eine Herkulesaufgabe.
Die Kampagne muss in Eile entstehen
Auch wenn Kamala Harris die Infrastruktur von Joe Bidens Kampagne übernommen hat, sie muss zuerst auf die neue Kandidatin ausgerichtet werden. «Sie bauen ein Flugzeug, während sie fliegen», sagte der ehemalige Spin-Doctor von Barack Obama, David Axelrod, an einem Anlass der University of Chicago. Zwar erfolgte schon am Sonntag die offizielle Stabübergabe im Hauptquartier in Delaware. Kamala Harris sprach zum Team, während Joe Biden, der sich immer noch wegen einer Covid-Erkrankung isolierte, per Telefon zugeschaltet war. Der Präsident erklärte in einem zarten Moment, er liebe Kamala und werde alles tun, um ihr beizustehen.
Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch vieles nebulös ist, etwa ob die bisherige Kampagnenführung weiterläuft. Alte, hochkarätige Weggefährten des Präsidenten wie Mike Donilon und Ron Klain werden es sich gut überlegen, ob sie vom Biden-Boot auf das Kamala-Kanu umsteigen wollen. Enorm wichtig wird die Arbeit der externen politischen Aktionskomitees werden, der sogenannten Super-PAC. Die gut finanzierten, von der Kampagne unabhängigen Wahlkampfmaschinen können in die Lücke springen, während die Harris-Kampagne sich aufbaut.
Ebenso wichtig ist die Unterstützung grosskalibriger Persönlichkeiten wie den Clintons und Barack Obama, die über schlagkräftige Netzwerke verfügen. Hillary Clinton sicherte Harris in einem Gastbeitrag in der «New York Times» ihre volle Unterstützung zu. Barack Obama wird es, nach einem gewissen Respektabstand, auch tun.
Das politische Profil ist noch unscharf
Als Joe Biden sie zur Vizepräsidentin kürte, hatte Kamala Harris nur zwei Jahre als Senatorin in Washington gedient, hinzu kommen die Jahre im Weissen Haus und ihre Zeit als Justizministerin in Kalifornien. Kamala Harris politisiert mehrheitlich auf der Parteilinie der Demokraten, zum Teil driftete sie nach links, etwa beim Thema der Einheitskrankenkasse. Als Chefanklägerin stand sie für Ruhe und Ordnung ein, was ihr der linke Flügel der Demokraten immer noch übelnimmt. Als Vizepräsidentin engagierte sie sich zuletzt für ein nationales Abtreibungsrecht. Doch so richtig greifbar ist Harris als Politikerin nicht.
Im kommenden Wahlkampf braucht Harris eine kohärente Botschaft und konkrete, umsetzbare Wahlversprechen, mit welchen sich Wähler überzeugen lassen. In ihren ersten Wahlkampfauftritten diese Woche setzte sie auf den maximalen Kontrast zu Donald Trump. Aber Anti-Trump-Politik reicht nicht: Die Wähler wollen wissen, ob Harris eine linke oder eine zentristische Demokratin ist, wie sie zur Wall Street steht, welche Israel-Politik sie verfolgen wird. Dafür ist die Zeit knapp.
Und schliesslich: «Es braucht nicht nur eine Botschaft, es braucht auch eine Botschafterin», wie die politische Analystin Amy Walter vom «Cook Political Report» kürzlich sagte. Kamala Harris glänzte bisher nicht gerade als Kommunikatorin und hat sich als Vizepräsidentin einige Patzer erlaubt – auch an ihrem etwas schrägen Image muss sie noch arbeiten.
Weisse, unabhängige Wähler sind skeptisch
Die Daten fehlen weitgehend, um einzuschätzen, wie die Harris-Kandidatur bei der Wählerschaft in den entscheidenden Swing States ankommt – es ist eine eigentliche Terra incognita. Klar ist, dass Kamala Harris ungefähr so unbeliebt ist wie Joe Biden und Donald Trump. Die ersten nationalen Umfragen diese Woche zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Harris und Trump – sie konnte die Prozentpunkte, die Joe Biden nach der TV-Debatte verloren hatte, grösstenteils wiedergutmachen.
Auf den Rückzug von Joe Biden reagierten Frauenorganisationen wie Emily’s List sowie afroamerikanische und südasiatische Wähler enthusiastisch. Schon am Sonntag mobilisierten sich rund 100 000 Afroamerikaner, um der Kampagne der Politikerin mit indisch-jamaicanischen Wurzeln zu helfen und Geld zu sammeln. Die Tochter von Martin Luther King, Bernice King, unterstützt zum ersten Mal überhaupt eine Kandidatur. Die Pläne von Donald Trump und den Republikanern, in diesen Wahlen Stimmanteile von Minderheiten und von Frauen in den Suburbs zu erobern, könnten ein jähes Ende finden. Auch die bisher apathische Generation Z regte sich im Internet, Fan-Videos von Harris gingen viral und wurden millionenfach geteilt.
Offenbar spricht Kamala Harris die demokratische Basis an und sichert damit die Stimmbeteiligung dieser wichtigen Wählergruppen. Doch will sie siegen, dann muss sie auch die Trump-skeptischen Republikaner und die unabhängigen Wähler in den Swing States erreichen. Bloss 20 Prozent der unabhängigen Wähler hatten einen positiven Eindruck von Kamala Harris gemäss den NBC-Umfragen, die bis Mitte Juli durchgeführt wurden. Sie ist in diesen Kreisen unbeliebter als Joe Biden (28 Prozent) oder Donald Trump (25 Prozent). Ob Harris die Wahlen gewinnen kann, wird deshalb davon abhängen, ob sie bei dieser wichtigen Wählergruppe schnell populärer werden kann. Entscheidend ist, wen sie zum Vizepräsidenten bestimmt. Ein weisser Mann aus einem Swing State könnte Harris helfen, bei den unabhängigen weissen Wählern an Akzeptanz zu gewinnen.







