In den vergangenen zwei Jahren wurden ukrainische Städte zum Ziel Tausender iranischer Kamikaze-Drohnen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Ursprungsversion dieser verheerenden Waffe auf einer Entwicklung für die Bundeswehr vor gut 35 Jahren beruhen könnte.
Wenn sie mit ihrem knatternden Zweitaktmotor anfliegt, klingt es wie ein Moped. Die Russen schicken sie in Massen ihren Präzisionsraketen voraus, um die ukrainische Flugabwehr zu binden. Sie stürzt sich auf Wohnhäuser, Kraftwerke und Stromanlagen. Seit mehr als zwei Jahren ist die Shahed-136 weltweit ein Symbol für den Luftterror des Regimes von Wladimir Putin in der Ukraine.
Die Shahed-136 wird als billige und effektive Kamikaze-Drohne aus Iran beschrieben. Die Kosten sollen bei 20 000 bis 50 000 Dollar pro Stück liegen, je nach Produktionsumfang und spezifischen Modifikationen. Das alles ist bekannt. Weniger bekannt ist der Ursprung der Shahed-136. Sie ist nicht ausschliesslich, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Deutschland entwickelt worden.
In den achtziger Jahren wurde im Auftrag des damaligen westdeutschen Verteidigungsministeriums in Bonn eine Drohne entwickelt, der die Shahed-136 sehr stark ähnelt. Nach der deutschen Wiedervereinigung hatte die Bundeswehr allerdings kein Geld mehr dafür. Sie stellte das Projekt ein. Nun ergeben sich zwei Fragen: Ist die vor gut 35 Jahren entwickelte deutsche Drohnentechnik in fremde Hände geraten? Und: Werden damit heute ukrainische Städte bombardiert?
Eine Drohne wie ein Kamikaze-Flugzeug
Die Geschichte beginnt bei einer Firma, die es heute nicht mehr gibt. Das Luftfahrtunternehmen Dornier hatte in den achtziger Jahren von der Bundeswehr den Auftrag bekommen, eine Anti-Radar-Drohne zu entwickeln. Die Absicht bestand darin, mit dieser Drohne gegnerische Radarstellungen zu entdecken und zu zerstören. Dazu sollte sie sich, ausgerüstet mit einem Radardetektor und einem bis zu 50 Kilogramm schweren Sprengsatz, wie ein Kamikaze-Flugzeug ins Ziel stürzen.
Drei Jahre nach der Auftragsvergabe stellte Dornier auf dem Testgelände der Bundeswehr in Meppen im Bundesland Niedersachsen 1992 zwei Prototypen der DAR-Drohne (Drohne Anti-Radar) vor. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass die Ziele der Luftwaffe nicht mehr zu realisieren waren. Sie wollte ursprünglich zwei Drohnenstaffeln bilden, in denen mehr als 4000 dieser Kamikaze-Drohnen vorgehalten werden sollten. Doch als nach der Wiedervereinigung der Verteidigungsetat zusammengestrichen wurde, war für das Projekt kein Geld mehr da.
Schon damals gab es Hinweise darauf, dass es neben Deutschland noch jemanden gibt, der an dem Drohnenprojekt grosses Interesse hat. 1987 habe Dornier selbst bekanntgegeben, dass man bei der Entwicklung der DAR-Drohne mit den Israeli zusammenarbeite. So schreibt es der amerikanische Fachmann Dan Gettinger in einer Studie über Kamikaze-Drohnen, die 2023 erschienen ist. Darin hat er sich ausführlich mit der mutmasslichen deutsch-israelischen Drohnenkooperation beschäftigt.
Danach scheinen Mitte bis Ende der achtziger Jahre zwei Anti-Radar-Drohnen mit weitgehend ähnlichen Eigenschaften aus der Beziehung zwischen Dornier und dem Unternehmen Israel Aerospace Industries hervorgegangen zu sein, schreibt Gettinger. Die eine war die deutsche DAR-Drohne, die andere die israelische Harpy. Beide verfügten über das gleiche Deltaflügel-Design und einen Schubpropeller.
Deutsche Technologie in israelischer Drohne?
Gettinger gibt auch einen Hinweis, worin die deutsch-israelische Arbeitsteilung bestanden haben könnte. Er schreibt, dass sich die Israeli vor allem auf den Radarzielsucher konzentriert hätten, der nicht nur bei der Harpy, sondern auch bei der DAR-Drohne verbaut gewesen sei. Unklar sei hingegen, ob die Israeli andererseits für ihre Drohne das eigentliche Fluggerät von Dornier bezogen hätten. Gettinger lässt das in seiner Studie offen.
Dazu gibt es allerdings an anderer Stelle klare Anhaltspunkte. Das renommierte britische Militärmagazin «Jane’s» berichtete 1995 in der Publikation «Jane’s unmanned aerial vehicles and targets», die Harpy sei in Israel entwickelt worden, allerdings «unter Verwendung von aus Deutschland erworbenen und modifizierten Basisflugzeugen mit Deltaflügeln». Das würde bedeuten, dass in der Harpy mutmasslich deutsche Technologie steckt.
Wenn Gettinger und «Jane’s» richtig liegen sollten, dann liesse sich das bis jetzt so zusammenfassen: Deutsche und Israeli haben vor gut 35 Jahren identische Drohnensysteme entwickelt. Beide waren so konzipiert, dass sie von Lkw-Containern aus gestartet werden konnten, bevor sie auf vorprogrammierter Flugbahn automatisch nach gegnerischen Radaren suchten. Diese Technologie bedeutete Ende der achtziger Jahre eine kleine militärische Revolution.
Bekannt ist, dass Deutschland und Israel zum damaligen Zeitpunkt schon länger bei Rüstungsprojekten kooperierten, ohne es an die grosse Glocke zu hängen. Die Vermutung liegt nahe, dass es auch bei diesem Drohnenprojekt so gewesen sein könnte. Haben Deutschland und Israel bei der Entwicklung der Drohne also offiziell zusammengearbeitet?
Die Bundesregierung weicht aus
Die NZZ hat beim deutschen Verteidigungsministerium in Berlin, bei Airbus Defence and Space als Rechtsnachfolger von Dornier und bei Israel Aerospace Industries nachgefragt. Während Airbus Defence and Space erklärte, es lägen «keine massgeblichen Informationen» mehr vor, reagierte Israel Aerospace Industries gar nicht. Das Verteidigungsministerium in Berlin indes teilte mit, dass neben Deutschland keine weiteren Staaten an dem Projekt beteiligt gewesen seien.
Eine Regierungskooperation gab es demnach also nicht. Wie kam es dann zu einem Projekt, bei dem allem Anschein nach deutsche und israelische Technologien ausgetauscht und in identischen Drohnen verbaut wurden? Auch wenn Deutschland und Israel nicht offiziell zusammenarbeiteten, muss die Regierung zustimmen, wenn deutsche Komponenten in einer israelischen Waffe verbaut werden. Gab es diese Genehmigung?
Die NZZ fragte nach. Die Antwort der Bundesregierung fiel ausweichend aus. «Zu etwaigen Ausfuhrgenehmigungen können wir aufgrund des über 30 Jahre zurückliegenden Zeitraums keine Angaben machen», teilte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums mit. Sie ergänzte, dass die Regierung unabhängig davon nicht zu konkreten Einzelgenehmigungen berichte, da hierbei auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der betroffenen Unternehmen berührt sein könnten.
Plötzlich taucht die Shahed-136 auf
Es gibt heute andere, weitaus leistungsfähigere deutsche und israelische Drohnen. Man könnte sich also mit der Antwort der Bundesregierung begnügen und die Sache auf sich beruhen lassen. Doch vor wenigen Jahren tauchten plötzlich iranische Drohnen auf, die der DAR-Drohne und der israelischen Harpy nicht nur äusserlich in frappierender Weise ähneln, sondern die auch deren Kamikaze-Prinzip kopierten. Wie kann das sein?
Dafür gibt es eine mögliche Erklärung. Zwischen Mitte und Ende der neunziger Jahre hat Israel etwa 100 Harpy-Drohnen an China verkauft. Das Geschäft lief offenbar geheim ab. Es wurde erst ein paar Jahre später bekannt. Im Juli 2002 berichtete die amerikanische Zeitung «The Washington Times», dass mehrere Harpy-Drohnen während einer Übung des chinesischen Militärs in der Provinz Fujian gesichtet worden seien. Fujian liegt Taiwan direkt gegenüber und eignet sich besonders für mögliche Luftangriffe auf die Insel.
Die NZZ wollte von der deutschen Regierung wissen, ob sie von dem israelischen Geschäft mit China wusste. Normalerweise ist es so, dass ein Waffenhersteller, der deutsche Technik verbaut, für einen Export eine erneute Genehmigung der Bundesregierung benötigt. Doch in ihrer Antwort ging die Regierung auf diese Frage gar nicht ein.
Zum Zeitpunkt des Harpy-Geschäfts mit China soll die Reichweite der Drohne bereits von 150 auf 500 Kilometer erweitert worden sein. In einer Analyse des amerikanischen Think-Tanks «Jamestown Foundation» über die israelisch-chinesischen Militärbeziehungen aus dem Jahr 2005 heisst es, die USA seien über das Drohnengeschäft mit China informiert und nicht erfreut gewesen. Sie hätten es aber auch nicht verhindert. Obwohl der ursprüngliche Kaufvertrag eine Aufrüstung der chinesischen Harpy vorsah, forderten die USA Israel 2004 auf, diesen Vertrag zu kündigen.
Enge Partnerschaft Chinas mit Iran
Es gibt also klare Indizien, dass die Drohne von Israel nach China gelangt ist. Wie aber könnte sie von dort in den Iran gekommen sein?
China pflegt seit langem enge militärische Beziehungen zu Iran. So soll es das Mullah-Regime unter anderem beim Bau von Produktionszentren für wichtige militärische Plattformen wie Marschflugkörper, Artillerie, gepanzerte Fahrzeuge, Marineschiffe und Raketen unterstützt haben. Das geht aus einer Analyse des indischen Think-Tanks «Observer Research Foundation» über Chinas Waffenlieferungen nach Iran von diesem September hervor. Allerdings heisst es dort auch, dass sich China «ausgesprochen zurückhaltend bei der Zusammenarbeit oder dem Verkauf einheimischer militärischer Hightech-Güter, insbesondere fortschrittlicher Drohnen oder moderner Kampfflugzeuge» zeige.
Ob diese Einschätzung vollumfänglich zutrifft, ist zumindest zweifelhaft. In einem Bericht des israelischen Fachmagazins «Israel Defense» aus dem April dieses Jahres heisst es, die iranische Shahed-136 ähnele stark der Harpy. Es sei daher anzunehmen, dass die Drohne «ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen China und Iran» sei.
Wenn das zutreffen sollte, dann würde sich der Kreis schliessen: Eine vor gut 35 Jahren von einem deutschen Unternehmen mutmasslich mitentwickelte Drohne wird von Israel nach China verkauft, das die Technologie allem Anschein nach Iran zugänglich gemacht hat.
So könnte es sehr wahrscheinlich gewesen sein. Theoretisch aber ist es auch nicht völlig auszuschliessen, dass die Pläne für die Drohne auf anderem Weg nach Iran gekommen sind.
Die verschiedenen Protagonisten haben die Drohne über die Jahre weiter entwickelt. Inzwischen gibt es Versionen, deren Reichweite mehr als 2000 Kilometer beträgt. Die deutsche Drohnenexpertin Ulrike Franke hat vor gut zehn Jahren unter anderem zum Thema deutsche Drohnenprojekte promoviert. Sie arbeitet heute für den European Council on Foreign Relations in Paris. Aus ihrer Sicht gibt es deutliche Hinweise, dass deutsche und israelische Unternehmen bei der Entwicklung der DAR- und der Harpy-Drohnen zusammengearbeitet hätten.
«Israel Aerospace Industries war irgendwie in das DAR-Projekt involviert, hat entweder mitentwickelt oder deutsche Technologie übernommen», sagt sie der NZZ. Es fehle allerdings der endgültige Beleg. So bleiben am Ende viele Anhaltspunkte, absolute Sicherheit aber gibt es nicht. Franke fasst das so zusammen: «Dornier und die Israeli haben die Drohne wahrscheinlich gebaut, China und Iran haben sich wahrscheinlich an dem Projekt orientiert und die Drohne modifiziert.»
Im Dezember 2021 stellte Iran offiziell die Shahed-136 vor. Gut ein Jahr später lieferte das Land erstmals Hunderte dieser Drohnen an Russland. Allein im November hat das Regime von Wladimir Putin 2500 Shahed-136-Drohnen auf ukrainische Städte losgeschickt. Ein Grossteil von ihnen sind inzwischen eigene, von den Russen modifizierte Versionen der Shahed-136, auch bekannt unter der russischen Bezeichnung Geran-2.
Einst als Waffe zur Bekämpfung von Radarstellungen für die Bundeswehr entwickelt, sprechen viele Indizien dafür, dass sich die Technik der DAR-Drohne auch 35 Jahre später noch immer im Einsatz befindet. Deutschland aber hat eine solche Kamikaze-Drohne bis heute nicht in seinem Militärarsenal.