Die Inflation ist dies- und jenseits des Atlantiks unterschiedlich hartnäckig. Das sorgt voraussichtlich für eine divergierende Geldpolitik von EZB und Fed. Mit der Eskalation der Lage im Nahen Osten ist zudem ein neuer Unsicherheitsfaktor hinzugekommen.
Die wirtschaftlichen Herzen in der Euro-Zone und in den USA schlagen derzeit immer weniger im gleichen Rhythmus. Das gilt etwa für die Konjunktur und die Entwicklung der Inflationsraten. Die Divergenzen dürften sich auch deutlich auf die Zinsentscheide der Europäischen Zentralbank (EZB) und der US-Notenbank (Federal Reserve, Fed) in den kommenden Monaten auswirken. An den Finanzmärkten passen Ökonomen und Händler daher bereits ihre Erwartungen für die Zinsentwicklung dies- und jenseits des Atlantiks an.
Erste Zinssenkung in den USA erst im September?
In der Euro-Zone stagniert die Konjunktur seit dem Sommer, was nicht zuletzt auf die Rezession in Deutschland und das minime Wachstum in Italien zurückzuführen ist, wogegen das Wirtschaftswachstum in Frankreich und vor allem Spanien höher war. Zugleich ist die Inflation in den vergangenen Quartalen im Euro-Raum kontinuierlich gesunken. Der zweistellige Höchststand von 10,6 Prozent im Herbst 2022 liegt lange zurück. Während die Teuerung im vergangenen Dezember noch bei 3,4 Prozent notierte, lag sie im März nach einer ersten Schätzung der Statistikbehörde Eurostat nur noch bei 2,2 Prozent – und damit sehr nahe an dem von der EZB angestrebten Ziel von mittelfristig 2 Prozent.
Allerdings erwarten einige Ökonomen, dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten wieder leicht anziehen könnte. Für eine Entwarnung ist es also noch zu früh. Dennoch rechnen Marktteilnehmer aufgrund der Signale von EZB-Präsidentin Christine Lagarde und anderen Ratsmitgliedern damit, dass die Notenbank im Juni ihre drei Leitzinssätze erstmals seit 2019 um 25 Basispunkte senken wird. Für das zweite Halbjahr liegen die Zinssenkungsprognosen der Bankökonomen dann weitgehend zwischen weiteren 0,5 und 1,0 Prozentpunkten. Vor wenigen Wochen hatten Marktteilnehmer jedoch noch auf stärkere Zinsreduktionen im Euro-Raum spekuliert.
In den USA brummt die Wirtschaft hingegen, und die Inflation liegt noch auf einem deutlich höheren Niveau als im Euro-Raum. Im März stieg die Teuerung sogar wieder von 3,2 auf 3,5 Prozent und damit noch stärker, als Beobachter zuvor im Durchschnitt erwartet hatten. Die Kerninflation ohne die volatilen Preise für Energie und Lebensmittel notierte gar bei 3,8 Prozent. Daraufhin haben Marktteilnehmer ihre optimistischen Zinssenkungserwartungen für die USA zurückgenommen. Sie rechnen jetzt nicht mehr mit einem ersten Zinsschritt im Juni, sondern im Juli oder – mit höherer Wahrscheinlichkeit – sogar erst im September.
EZB will Zinsentscheide von neuen Daten abhängig machen
Dies führt zur Situation, dass die EZB erstmals in ihrem 25-jährigen Bestehen eine Zinswende vor der US-Notenbank einleiten könnte. Bei den vorangegangenen vier grossen Richtungswechseln hatte jeweils das Fed den ersten Schritt gemacht. Das hatte aber wohl auch damit zu tun, dass die amerikanische Konjunkturentwicklung der europäischen jeweils um mehrere Monate vorausgelaufen war.
Dennoch meinen manche Beobachter, der EZB-Rat wolle nur ungern den ersten Schritt machen, wogegen Vertreter der Notenbank selbst betonen, sie richteten ihre Zinspolitik an den eintreffenden Wirtschaftsdaten aus und nicht an Zinsentscheiden anderer Zentralbanken.
Wie auch immer: Zumindest gab es in der Vergangenheit durchaus auch abweichende geldpolitische Reaktionen. So hatte das Fed im Jahr 2016 die Zinsen erhöht, wogegen die EZB an ihren Negativzinsen festhielt und sogar noch Wertpapierkaufprogramme auflegte. Vier Jahre zuvor wiederum hatte die EZB während der Staatsschuldenkrise in Europa die Zinsen gesenkt, während das Fed sie konstant hielt. Und im Jahr 2008 hatte die EZB die Zinsen während der grossen Finanzkrise einmal kurz erhöht, während das Fed sie durchgehend gesenkt hatte. Dieser Zinsschritt der EZB wird heute nach dem damals amtierenden Präsidenten Jean-Claude Trichet als «Trichet-Fehler» bezeichnet.
Eskalation in Nahost als neuer Unsicherheitsfaktor
Derzeit kommt erschwerend hinzu, dass die Eskalation des Konflikts zwischen Israel und Iran für eine nochmals höhere geopolitische Unsicherheit sorgt. Der Ausbruch eines grösseren Krieges im Nahen Osten könnte Handelsrouten beeinträchtigen und den Erdölpreis von derzeit rund 82 Dollar pro Fass für die US-Sorte WTI in Richtung 100 Dollar treiben. Dies würde den Inflationsdruck erhöhen und die Konjunktur dämpfen. Das müssten die EZB und das Fed wiederum in ihre Überlegungen hinsichtlich der Zinsstrategie einbeziehen.
Marktteilnehmer rechnen angesichts dieser Gemengelage für das Fed bei den Leitzinsen nun mit einem «higher for longer» und für die EZB mit einem «slower for longer». Sie müssen also ihre teilweise aggressiven Zinssenkungserwartungen neu justieren, indem sie für die USA länger mit höheren und für den Euro-Raum mit weniger schnell sinkenden Leitzinsen kalkulieren. Dies hat an den Aktienbörsen erste Spuren hinterlassen, indem die Kurse dies- und jenseits des Atlantiks einen Dämpfer erhalten haben. Für den Euro erwarten manche Ökonomen, dass er zum Dollar in Richtung Parität sinken wird.
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