Der ehemalige Bundesrat macht sich Gedanken darüber, welche seiner Überzeugungen sich als falsch erwiesen haben. Verantwortlich macht er dafür, was er frei nach Christian Morgenstern den Palmström-Bias nennt.
I
Hin und wieder frage ich mich, ob auch mir in meiner politischen Karriere wichtige Irrtümer unterlaufen sein könnten. Ich weiss natürlich, dass unser Gehirn zwar ein phänomenaler Hochleistungscomputer ist, dass wir Menschen aber trotzdem immer wieder von sogenannten kognitiven Verzerrungen heimgesucht werden. Diese lassen uns die Dinge anders erscheinen, als sie wirklich sind.
Ein wichtiges Beispiel ist unsere Neigung, Informationen so auszuwählen und zu gewichten, dass sie unsere Hypothesen, Ideologien oder Vorurteile bestätigen. Man könnte in Anlehnung an das berühmte Gedicht von Christian Morgenstern vom Palmström-Bias sprechen, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf.
Ich bin auf drei Überzeugungen gestossen, die mir wichtig waren und die sich heute als Illusionen erweisen: Erstens die Vorstellung, durch immer bessere Informationsmöglichkeiten und vermehrte Transparenz werde sich in der Politik nicht mehr die Lüge, sondern die Wahrheit durchsetzen. Zweitens die Überzeugung, die liberale Demokratie werde sich mit der Zeit dank ihrem Leistungsausweis und dank der Vernunft der Menschen global durchsetzen. Und drittens die Erwartung, der Krieg als Mittel der Politik werde allmählich aussterben.
II
Demokratie braucht hinreichend informierte Bürger und einen offenen Wettbewerb der Meinungen. So hat beispielsweise der Transistor den Zusammenbruch der Sowjetunion begünstigt, weil er das Informationsmonopol der Partei brach und der Wahrheit eine Chance eröffnete. Nie hatten die Menschen mehr Informationen als gerade heute in der Zeit des Internets. Aber gerade das wird plötzlich zum Problem.
Künstliche Intelligenz kann Lüge als Wahrheit erscheinen lassen. Im Internet ist nicht immer unterscheidbar, ob eine Meinung von einem Menschen oder einem Algorithmus stammt. Algorithmen der grossen Tech-Konzerne begünstigen Empörung und Hass, weil diese mehr Aufmerksamkeit erregen als sachliche Informationen.
All das schafft einen fruchtbaren Nährboden für Verschwörungstheorien, Schuldzuweisungen und Hassgefühle. Damit leisten die sozialen Netzwerke einen substanziellen Beitrag zur Polarisierung, die die liberalen Demokratien bedrängt und auf weite Strecken blockiert. Die Frage stellt sich, ob und wie kluge Regulierung einen fairen Meinungswettbewerb sichern könnte.
III
Von meinem Vater, der während der zwei Weltkriege auch in Deutschland unternehmerisch tätig war, lernte ich schon als Bub, was Diktatur und Populismus konkret bedeuten. Der Stolz auf unsere direkte Demokratie wurde mir sozusagen mit der Muttermilch eingegeben. Es war Pflicht und feierlicher Akt zugleich, mit Vater und Onkel an Abstimmungssonntagen anständig angezogen das Urnenbüro zu betreten. Doch nie gingen Vater und ich ohne Konsultation der Mutter an die Urne. Dass ein Volk das Privileg einer Demokratie je freiwillig unter Einfluss von Populisten aufgeben könnte, war für mich unvorstellbar.
Erst mit der Zeit erkannte ich, wie verletzlich das uns nicht angeborene Kunstgebilde Demokratie ist, auf wie vielen institutionellen und kulturellen Voraussetzungen sein Erfolg beruht und wie rasch diese Voraussetzungen wieder verspielt sind.
Noch als Bundesrat hätte ich mir nie vorstellen können, dass in den USA ein Mann demokratisch als Präsident gewählt wird, der vorbestraft ist, der die Kontrollmechanismen der Verfassung mit Füssen tritt, der Unberechenbarkeit zum Prinzip erhebt und der schamlos lügt. Ebenso wenig war für mich denkbar, dass sich in unseren Demokratien politische Kräfte ausbreiten, die Autokraten bewundern und für Putins Vernichtungskrieg in der Ukraine Verständnis haben.
Nein, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berechtigte Erwartung, Demokratie und Marktwirtschaft würden der Welt stabilen Frieden und Wohlstand bringen, wird zurzeit krass zertrümmert. Eine Achse aggressiver Autokratien hat sich die Ausmerzung der liberalen Demokratie zum Ziel gesetzt, und innere Erosionstendenzen in bestehenden Demokratien sind unübersehbar.
Ängste vor sozialem Abstieg bedrohen einen Stabilitätsanker der Demokratie, das Wohlstandsversprechen. Die beängstigende Komplexität der Verhältnisse bringt populistischen Heilsbringern Zulauf, die einfache Lösungen und die Bestrafung der an allem Ungemach Schuldigen versprechen.
Wohlstandsverwöhnung und unrealistische Wahlversprechen führen zu einem schleichenden Übergang der Leistungs- in eine Anspruchsgesellschaft, deren Erwartungen der Staat nicht mehr erfüllen kann. Der Politologe Manfred Schmidt spricht von der strukturellen Überforderung der Demokratie. Die Zersplitterung in unversöhnliche und kompromissunwillige politische Gruppen provoziert gefährliche Reformblockaden.
In der Schweiz mögen dank überdurchschnittlichem Wohlstand und vor allem dank direkter Demokratie diese Effekte geringer sein, und die Demokratie ist bei uns nicht in Gefahr. Aber es ist unübersehbar, dass diese Entwicklungen uns nicht unbeeinflusst lassen.
Unsere legendäre Kompromisskultur bekommt durch die Polarisierung Risse, und dringende Reformen etwa in den Bereichen der nachhaltigen Finanzierung der Sozialwerke, der Regelung des Verhältnisses zur EU oder der Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit im immer schwierigeren handelspolitischen Umfeld sind blockiert. Unverkennbar ist auch die zunehmende Unverfrorenheit, mittels der auch bei uns Interessengruppen die begrenzte Allmende der Staatsfinanzen für sich auszubeuten versuchen.
Trotz alledem lebt sich’s in Demokratien in jeder Hinsicht besser, sonst stünden die Flüchtlingsströme nicht vor ihren Toren. Wenn die Demokratien aber überleben und nicht zur historischen Episode verkommen sollen, werden sie ihre Hausaufgaben lösen, den populistischen Versuchungen widerstehen und wieder zu Vorbildern werden müssen.
Das wissenschaftlich belegbare Anschauungsmaterial über den Schaden, den Populisten auch für ihre Anhänger in Demokratien anrichten, ist mehr als überzeugend. Es gibt kein einfaches Rezept, eine Umkehr zu bewerkstelligen. Vor allem bedarf es des rastlosen und selbstkritischen Einsatzes jener, die noch an die Demokratie glauben.
IV
Steven Pinker hat anhand historischer Daten gezeigt, dass die Zahl der Todesopfer in Kriegen im Verhältnis zur Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten signifikant abgenommen hat. Das hat eine ganze Reihe von Gründen, angefangen bei der völkerrechtlichen Ächtung des Krieges als Mittel der Politik über die Zunahme der Anzahl Demokratien bis zur Schaffung friedensfördernder Mechanismen in internationalen Organisationen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges schien die Wahrscheinlichkeit grosser Kriege weiter abzunehmen. Die westlichen Demokratien – auch die Schweiz – rüsteten ab und nutzten die sogenannte Friedensdividende zum Ausbau des Sozialstaates. Bei meinem Besuch der Sowjetunion 1989 war bei sehr unerfreulichen Gesprächen mit der russischen Generalität allerdings weder von Glasnost noch von Perestroika auch nur das Geringste spürbar. Deshalb traute ich dem Frieden damals noch nicht.
So lautete denn auch das Motto der ersten Armeereform «Abspecken ohne Muskelverlust», um die Verteidigungsfähigkeit trotz Reduktion der Bestände auf damals 400 000 Angehörige der Armee zu erhalten. Als dann aber durch Globalisierung der Wohlstand der Welt eindrücklich zu wachsen begann und Kriege immer weniger wahrscheinlich wurden, festigte sich auch bei mir allmählich der Eindruck, Francis Fukuyama habe mit seinem berühmten Schlagwort vom «Ende der Geschichte» nicht unrecht. Als Finanzminister trug ich deshalb die Nutzung der Friedensdividende bei den weiteren Armeereformen auch mit. Angesichts des damaligen politischen Klimas wäre etwas anderes auch nicht mehrheitsfähig gewesen.
Plötzlich wird unweit von uns ein blutiger Angriffskrieg geführt, und das Fehlen einer leistungsfähigen und leistungswilligen demokratischen Ordnungsmacht ermutigt regionale Potentaten zur Auslösung zerstörerischer lokaler Konflikte. Es zeigt sich in aller Schärfe, dass wirtschaftliche Macht die militärische nicht ersetzen kann, dass wirtschaftliche Verflechtung Kriege nicht verhindert und dass die internationalen Organisationen inklusive Uno angesichts der Rückkehr schierer Machtpolitik weitgehend hilflos sind.
Ich gebe gerne zu, dass es schon früh Signale gab, die zur Vorsicht geraten hätten, angefangen bei den grausamen Tschetschenienkriegen über die Rückeroberung der Krim durch Russland bis zum Einmarsch der «grünen Männchen» in den Donbass. Vor allem unter den europäischen Demokratien breitete sich eine Art kollektive Realitätsverweigerung im Sinne von Morgensterns Palmström-Bias aus.
Ich hatte in meinem zweiten Präsidialjahr 2002 die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga zum Staatsbesuch eingeladen, die mir schon damals Putin und seine Entourage genau so schilderte, wie wir sie heute erleben. Ich empfand damals ihre Sicht als masslos übertrieben und vom Kalten Krieg geprägt. Wir hätten auf sie hören sollen.
V
Zurzeit feiert Palmström wieder Urständ. Die Völker der wohlhabenden europäischen Demokratien scheinen wenig geneigt, für die Verteidigungsfähigkeit zur Erhaltung ihrer Freiheit und für notwendige marktwirtschaftliche Reformen notfalls Wohlstandsverluste in Kauf zu nehmen. Parteien, die die verständliche Friedenssehnsucht der Menschen ausnützen, feiern Wahlerfolge und verheissen ewigen Frieden durch Konzessionen an Putin. Politiker ködern ihre Wähler mit der Illusion, mittels Regulierung, Gleichmacherei, Schulden und Subventionen völlig schmerzfrei eine rosige Zukunft zu sichern.
Obwohl Europa eigentlich alle kulturellen, demokratischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zutaten für einen Durchstart hätte, scheint die Fata Morgana der Besitzstandwahrung die Aufbruchskräfte zu lähmen. Aber diesmal hoffe ich, dass ich mich irre und einem umgekehrten Palmström-Bias erliege. Vielleicht kann wirklich auch einmal eintreten, was sein müsste. In der Geschichte fanden immer auch wieder Wenden zum Besseren statt.
Kaspar Villiger ist Altbundesrat. Er gehörte von 1989 bis 2003 der Schweizer Regierung an.