Mehr als 73 Prozent der Stimmenden und alle Stände sagen Nein zum Volksbegehren der Freiheitlichen Bewegung Schweiz. Die Frage, wie weit der Staat bei Epidemien in die Grundrechte eingreifen kann, bleibt aber aktuell.
Es hatte sich seit längerem abgezeichnet, dass die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» bei der Stimmbevölkerung keinen Anklang finden würde. Die deutliche Ablehnung ist also keine Überraschung: Mehr als 73 Prozent der Stimmenden und alle Stände sagten Nein zur Initiative. Ganz vereinzelt nur – im Tessin, im Jura, in Schwyz – fand die Vorlage mehr als einen Drittel Zustimmung.
Das Volksbegehren der Freiheitlichen Bewegung Schweiz ist ein Ausläufer der belastenden Corona-Zeit, und ein Gutteil der Bevölkerung dürfte des Themas überdrüssig sein. Der Kopf hinter der Bewegung heisst Richard Koller, und Ziel der staatskritischen Organisation ist es, sich für Wohlstand, Natur und für eine «goldene Zukunft» aller Bürger einzusetzen. Die Bewegung bildet eine Heimat für ein Sammelsurium aus Personen, die sich mit ihren Ideen ausserhalb des Mainstreams bewegen und mit ihren ungewöhnlichen Thesen auf weite Kreise eher abschreckend wirken dürften.
Breiter Widerstand
Die Initianten wollten in der Verfassung festschreiben, dass für Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit die Zustimmung der betroffenen Person vorliegen muss. Auch sollten Impfzertifikate, wie sie während der Corona-Zeit für den Zugang zu Restaurants oder Kultur- und Sporteinrichtungen verlangt wurden, nicht mehr möglich sein. Der Initiativtext ging allerdings weit über das Thema Impfen hinaus. Er erfasste grundsätzlich alle staatlichen Eingriffe in die körperliche und psychische Integrität. Nicht einmal die Initianten waren sich einig, welche Folgen die Initiative genau hätte und wie absolut das Recht auf Unversehrtheit ausgelegt werden sollte.
Das Begehren wurde denn auch von Bundesrat und Parlament sowie von fast allen Parteien zur Ablehnung empfohlen. Einzig die SVP hatte sich für ein Ja ausgesprochen, was wohl weniger mit der Güte der Initiative zu tun hatte als mit dem Unmut darüber, dass der Bundesrat und die Verwaltung bis heute keine Anstalten zeigen, Sinn und Unsinn der Corona-Massnahmen aufzuarbeiten.
Mit dem Nein zur Initiative ändert sich punkto Impfen nichts. Schon heute ist es in der Schweiz nicht erlaubt, eine Person gegen ihren Willen zu impfen. Das Epidemiengesetz – 2013 in einer Referendumsabstimmung gutgeheissen – sieht zwar vor, dass ein Impfobligatorium für gewisse Gruppen wie beispielsweise das Spitalpersonal verhängt werden kann. Ein solches Obligatorium wurde während der Corona-Zeit indes nicht ausgesprochen. Dieser Umstand dürfte dazu beigetragen haben, dass die Stimmbevölkerung keine Notwendigkeit für die Stopp-Impfpflicht-Initiative sah.
Das Zertifikat soll weitergeführt werden
Das Epidemiengesetz befindet sich derzeit in Revision. Die Vernehmlassung ist abgeschlossen, der Bundesrat will die Vorlage nächstes Jahr dem Parlament zuweisen. Dabei sollen auch Instrumente, die während des Corona-Regimes entwickelt wurden, ins Gesetz übergeführt werden. So namentlich das Zertifikat, mit dem erneut eine 2-G-Regel (geimpft oder genesen) installiert werden könnte. Einzig Zugangsbeschränkungen, die faktisch einer Impfpflicht nahekommen, sollen laut Bundesrat ausgeschlossen sein.
Soweit überblickbar, ist die Revision des Epidemiengesetzes im Grundsatz nicht bestritten. Abgesehen von der SVP, die zuerst eine kritische Aufarbeitung der Corona-Zeit verlangt, ist der Tenor in der Vernehmlassung positiv. Gewisse Punkte werden aber mit Sicherheit zu reden geben, vor allem die Verstetigung des Zertifikats, dessen Einsatz während der Corona-Zeit höchst fragwürdig war. Gewisse Kreise wollen die Gelegenheit zudem nutzen, um dem Staat Kompetenzen auf neuen Gebieten zu verschaffen. So sprechen sich etwa Wissenschafter des Covid-19-Forschungsprogramms NFP 80 des Schweizerischen Nationalfonds dafür aus, eine Art «Zensurartikel» in das Epidemiengesetz aufzunehmen, der es den Behörden erlauben würde, gegen «falsche» oder «irreführende» Informationen vorzugehen.